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Broschüre Sozialabbau und Enteignung

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Im Jahr 2004 haben sich die Arbeitskreise "Soziale Sicherungssysteme" und "Weltwirtschaft und WTO" von attac Marburg mit dem Thema Sozialabbau und Hartz IV beschäftigt. Einige Ergebnisse dieser Aktivitäten haben wir in folgender Broschüre zusammengestellt. Daneben konnten wir auch Experten von anderen Organisationen und sozialen Bewegungen gewinnen, die weitere Beiträge verfasst haben. Unser Ziel ist es, die Auswirkungen des Sozialabbaus in Gestalt von Hartz IV und anderen Maßnahmen auf die Region Marburg darzstellen und sie in dem Prozess der weltweiten neoliberalen Globalisierung einzuordnen.

 

Inhalt

Einleitung

Es wird in letzter Zeit immer deutlicher, dass das eigentliche Zeil der sog. Sozialreformen wie Hartz IV ein allgemeine Lohnsenkung ist. Durch Hartz IV wird die Arbeitslosenhilfe abgeschafft und die Arbeitslosen sind in Zukunft der hemmungslosen Willkür von Fallmanagern unterworfen. Zugleich wird ein riesiger Niedriglohnsektor geschaffen. Die dort Beschäftigten sind hier völlig rechtlos. Gewerkschaften werden durch Drohungen mit einer Verlagerung in Billiglohländer erfolgreich erpresst, auf Lohnerhöhungen zu verzichten. Politiker aller Parteien fordern längere Arbeitszeiten.

Darum geht es in dieser Broschüre: Frank Rentschler beschreibt die Folgen der Hartz-Reformen: Eine totale Entrechtung der Arbeitslosen. Der Zusammenhang von Hartz IV und der Globalisierung ist auch Thema einer Rede, die von attac auf der ersten Marburger Montagsdemo am 23.08.2004 gehalten wurde. Sie wird in dieser Broschüre ebenfalls dokumentiert. Günter Reinhard stellt die Frage, ob unsere Kassen wirklich leer sind und wir deshalb zwangsläufig sparen müssen, oder ob der Staat absichtlich auf Einnahmen von Unternehmenssteuern verzichtet. Ein weiterer Artikel beschäftigt sich mit den langfristigen Folgen dieser zerstörerischen Wirtschaftspolitik.

Es ist kein Wunder, dass der Sozialabbau auch Auswirkungen im lokalen Bereich hat. Diese sollen ebenfalls dargestellt werden: Es ist unglaublich, aber selbst in Marburg grassiert Fehl- und Mangelernährung bei Sozialhilfeempfängern und Rentnern. Ein Artikel von Friedemann Wagner (Marburger Tafel) geht darauf ein. Schon heute werden Arbeitslose durch absurde „Trainingsmaßnahmen“ gequält, in der Hoffnung, dass sie dort nicht mehr auftauchen und aus dem Leistungsbezug gestrichen werden können. Wir veröffentlichen drei Erfahrungsberichte. Zudem existiert bereits ein breiter Niedriglohnsektor. Attac hat Interviews mit den hier Beschäftigten geführt. Ein Artikel des AKSB stellt die katastrophalen Folgen der Kochschen Sozialkürzungen für die Arbeit in benachteiligten Stadtteilen dar.

Vor dem Pleitegeier kamen die Schakale

Dem Fiskus entgehen jährlich Milliarden - eine erschreckende Bilanz des Bundesrechungshofes. Der Bundesrechnungshof veröffentlichte 2003 einen Bericht über exorbitante Steuerausfälle bei der Umsatzsteuer. Eine offenkundig lückenhafte Gesetzgebung bietet Betrügern den nötigen Spielraum um dem Fiskus Milliardensummen vorzuenthalten.

Der „Umbau des Sozialstaates“, wie der nicht enden wollende Abbau sozialer Errungenschaften im orwellschen Neusprache euphemistisch genannt wird, sei aufgrund der anhaltenden Ebbe in den öffentlichen Kassen unausweichlich. Leere Kassen zwingen zu Sparmaßnahmen, so die einfache Logik von Kanzler & Co. Dadurch wird eine angeblich alternativlose Politik gerechtfertigt mit Verweis auf schicksalhafte Sachzwänge. Gebetsmühlenartig wird bei jeder Gelegenheit wiedergekäut, die Misere der Gemeinden, Länder und des Bundes käme von den dreisten Ansprüchen verhätschelter „Besitzstandwahrer“, die in einem gigantischen „Freizeitpark“ über ihre Verhältnisse leben. So müsse also ein „Ruck“ durch das Land gehen, damit wir endlich „den Gürtel enger schnallen“ (und uns jede Arbeit zumuten). Ins Konkrete übertragen bedeutet dies für den Exportweltmeister und eines der reichsten Länder der Welt, Kürzen, Sparen und Verzichten. Gekürzt werden soziale Leistungen, gespart wird an der Bildung und verzichtet wird auf Schutz vor Armut und sozialem Abstieg.

„Ein auffälliges Missverhältnis“

Die Diskussion über die Konsequenzen dieser fatalistischen Agenda-2010-Politik darf sich nicht allzu defensiv darauf beschränken, die Ausgabenseite der öffentlichen Hand zu betrachten. Mindestens ebenso interessant ist es, die Einnahmen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. In der Tat bedarf es hierfür einer solchen. Aber nicht nur, weil die Zuflüsse so bescheiden ausfallen, sondern auch, weil dies kaum ein Gegenstand der Zeitungen und Talkshows ist, wodurch sich das verhältnismäßig geringe Interesse der Öffentlichkeit erklärt. Dabei hätte sich zum Beispiel der Bericht des Bundesrechnungshofes vom September letzten Jahres (1)  durchaus zum Auslöser einiger Empörung und unangenehmer Fragen an die Legislative geeignet. Einleitend wird in dem Report auf „ein auffälliges Missverhältnis“ zwischen dem Wirtschaftswachstum und dem Aufkommen an Umsatzsteuer hingewiesen. Damit zeigt der Bundesrech-nungshof mit dem Finger auf einen mysteriösen Einnahmeausfall, der die - neben der Lohnsteuer - größte Einnahmequelle der Bundes- und Länderhaushalte betrifft. Obwohl eine große Abhängigkeit zwischen beiden Größen bestehen sollte, dümpelten die Umsatzsteuereinnahmen auch zu Zeiten, als das Bruttoinlandsprodukt noch deutlich zulegte, die Wirtschaft also wuchs, träge vor sich hin. Auch das Bundesfinanzministerium sah sich nicht in der Lage, den offensichtlichen Milliarden-Fehlbetrag befriedigend zu erklären.

Das Milliarden-Euro-Ding

Was sind also die Ursachen der ungewöhnlich hohen Steuerausfälle? Der Bundesrechnungshof nimmt hier kein Blatt vor den Mund. Da ist von gezielten Insolvenzen die Rede, von Scheingeschäften, von unseriös operierenden Subunternehmen oder von Scheinfirmen, die nur zum Zweck der Rechnungsausstellung gegründet werden. Kurz: Es geht um Steuertricks und grenzüberschreitende kriminelle Machenschaften, die zur ruinösen Konkurrenz für aufrichtig arbeitende Unternehmer geworden sind. Die jährlichen Einbußen in Form von Umsatzsteuerausfällen beziffert der Report auf einen zweistelligen Milliardenbetrag. Der gesamtgesellschaftliche Schaden ist weitaus höher: Neben einer halben Million legaler Arbeitsplätze gehen Jahr für Jahr insgesamt über 70 Milliarden Euro an Steuern und zusätzlich über 50 Milliarden Euro an Sozialversicherungsbeiträgen verloren.

Es geht auch anders

In seinem Bericht macht der Rechnungshof sehr konkrete Empfehlungen, wie den illegalen Tricksereien mit wenig Aufwand begegnet werden kann. Neben verstärkten Baustellenkontrollen und einer intensiveren Zusammenarbeit zuständiger Ämter wird die Einrichtung einer Betrugsbekämpfungsbehörde nach französischem Vorbild gefordert. Auch Gegenseitigkeitsabkommen über die Strafverfolgung bestimmter Delikte mit anderen EU-Mitgliedern werden angeregt. Hier soll nicht die Lanze für einen Überwachungsstaat gebrochen werden. Auch kann es nicht darum gehen, dem Sozialhilfeempfänger, der sich etwas schwarz hinzuverdient - wer wollte es ihm ernsthaft verdenken - das Wasser abzugraben. Somit müssen natürlich alle Vorschläge differenziert betrachtet und ihre möglichen Folgen genau abgewogen werden. Die hinter den aufgeführten Machenschaften steckende enorme kriminelle Energie entstammt allerdings einem Pool ominöser Firmen und Unternehmen, deren Spitzen sich einen Dreck um die Belange ihrer Knechte oder gar der Gesellschaft scheren. Wer über desolate Haushalte lamentiert und darin den Beweis für einen unfinanzierbaren „Wohlfahrtsstaat“ sieht, der darf hier nicht wohlwollend beide Augen zukneifen!

Von den Nachbarn lernen

Zu den zahlreichen konkreten Gesetzesänderungen, die vom Rechnungshof empfohlen werden, gehört unter anderem die potentielle Haftung eines Unternehmers bereits dann, wenn dieser hätte wissen müssen, dass er Teil eines Betrugsmodells wird. Die Indizien hierfür sind oft mehr als eindeutig. So wird von einem Fall berichtet, in dem auf einer Rechnung in dreistelliger Millionenhöhe der Vermerk ‚in bar erhalten’ zu lesen war. Jeder ordentliche Kaufmann sollte spätestens bei einer derart hohen Barzahlung verdacht schöpfen. Ferner wird mehrfach auf vorbildliche Regelungen unserer Nachbarn verwiesen. So sei der hierzulande fehlende Fiskusvorbehalt bei einer Insolvenz im europäischen Vergleich völlig ungewöhnlich. Somit ist festzuhalten, dass die Vorschläge des Rechnungshofes weder zu einer übertriebenen und kostspieligen Bürokratisierung führen, noch entstünde durch sie ein „Standortnachteil“ - ein schauderhaft chauvinistisches Kriterium, welches bezeichnenderweise inzwischen zum Maß aller Dinge avanciert ist.

Wird jetzt alles gut?

Man darf gespannt sein, welche Handlungsoptionen umgesetzt werden bzw. wie diese sich gegebenenfalls in der Praxis bewähren. Auf ähnliche Missstände wurde bereits in der Vergangenheit wiederholt aufmerksam gemacht, meist ohne dass der Gesetzgeber daraus angemessene Maßnahmen ableitete. So ist zu befürchten, dass auch diesmal der Milliardensegen für die öffentlichen Haushalte aufgrund mangelnder politischer Handlungsbereitschaft ausbleibt. Wenn es nicht gerade auf eine primitive und an der Sache völlig vorbeigehende „Putzfrauendebatte“ herunter gebrochen wird, wie bei der Schwarzarbeit geschehen, dann ist die Thematik anscheinend zu belanglos oder medienunwirksam, wo wir doch alle so schön mit dem Reformieren des Sozialstaates und dem Gürtel enger schnallen beschäftigt sind.

Günter Reinhard


(1)  Bericht des Bundesrechnungshofes vom 3. September 2003: Steuerausfälle bei der Umsatzsteuer durch Steuerbetrug und Steuervermeidung. Vorschläge an den Gesetzgeber. (http://www.bundesrechnungs-hof.de/veroeffentlichung/1024.html; Stand 08.11.2004)

Mangel und Überfluss

Wer täglich am Existenzminimum lebt, muss gut rechnen können. Für Sozialhilfeempfänger - oder in Zukunft auch die Bezieher des Arbeitslosengeldes II - ergeben sich Einsparpotentiale meist nur beim Kauf der Lebensmittel. Fehl- und Mangelernährung sind die Folge. Auf der anderen Seite werden in unserer Gesellschaft täglich unverdorbene Lebensmittel in großen Mengen vernichtet. Diesem Widersinn entgegen zu treten, das ist das Anliegen der Marburger Tafel.

Auf der ganzen Erde gibt es zu viele Menschen, die nicht genug zu Essen haben. Auch im reichen Deutschland ist Armut ein gerne übersehenes Problem, das sich in Zukunft durch den Abbau der sozialen Sicherungssystem eher noch verschärfen wird. Zumal der Begriff der Armut relativ ist und meist vom weichen Sessel aus definiert wird. Diese begriffliche Schwierigkeit erschwert den Umgang mit dem Phänomen zusätzlich. Konstantin von Normann, Diplom-Oecotrophologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschaftssoziologie des Instituts für Agrarpolitik, Marktforschung und Wirtschaftssoziologie der Universität Bonn äußert sich zu dem Problem: “Je nach Berechnungsmodell leben in Deutschland zwischen fünf und acht Millionen Menschen in (Einkommens-) Armut. Das Einkommen wird zu einem großen Teil für die Absicherung elementarer Lebensbedürfnisse benötigt. Bei einem ohnehin beschränkten Budget können meist nur bei der Nahrung größere Posten eingespart werden. Besonders Haushalte mit geringem Einkommen verzichten auf den Kauf bestimmter Nahrungsmittel. Viele Betroffene leben pro Tag von ca. 4,5 Euro, die für die Zubereitung von Frühstück, Mittag- und Abendessen ausreichen müssen. Als Luxus gilt unter Armen oft schon das, was für die Mehrheitsgesellschaft als Alltagskost gesehen wird. Auf Fleisch wird meist ganz verzichtet. Frisches Obst ist selbst im Sommer noch zu teuer und auch Grundnahrungsmittel wie Milch gehören oft zu den Luxusgütern. Spricht man sogar von „materieller“ Ernährungsarmut ist die Situation noch schwieriger. Dann reicht allein die Menge nicht aus und/oder Qualität und Hygiene der Lebensmittel sind unzureichend. Besonders im letzten Monatsdrittel fällt es vielen schwer, eine ausgewogene Ernährung sicherzustellen. Die negativen Folgen für die Betroffenen liegen auf der Hand: Hunger, Fehlernährung sowie die Konkurrenz von Nahrungsmitteln zu Genussmitteln wie Alkohol, Zigaretten sowie Drogen ist groß.”

Demgegenüber stehen große Mengen von qualitativ einwandfreien Lebensmitteln, die aus dem Wirtschaftsprozess herausgenommen werden, weil sie nicht mehr verkäuflich sind. Diese Waren werden an die Tafel gespendet. Es handelt sich zum Beispiel um Waren, die kurz vor dem Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums stehen oder um Waren, die aus mangelnder Nachfrage aus dem Sortiment genommen wurden. Ein Netz mit Äpfeln, in dem sich ein schlechter befindet, muss nicht komplett vernichtet werden! Eine Serie von falsch etikettierten Nudeln, die nicht mehr verkäuflich sind, kann trotzdem noch gegessen werden. Solche Lebensmittel werden an die „Marburger Tafel“ gespendet, die sie an Bedürftige weitrerleitet. Die “Marburger Tafel”, die sich im April 2000 nach dem amerikanischen Vorbild “City Harvest” in New York gegründet hat, ist ein beim Vereinsregister des Amtsgerichts Marburg eingeschriebener Verein. Die Anerkennung der Gemeinnützigkeit wurde vom Finanzamt Marburg erteilt. In unserer Stadt Marburg, widmete sich die Landgräfin Elisabeth - die spätere Heilige Elisabeth - der Armen- und Krankenpflege. Diesen Vorstellungen der Nächstenliebe fühlen wir uns besonders verpflichtet. Unser Motto lautet: “Verteilen statt vernichten”.

Zur Kundschaft der Tafel zählen alte Menschen, Kinder, Kranke und Gesunde jeden Alters und jeder Nationalität, die Sozialhilfe oder eine geringe Rente beziehen. Gegen Vorlage der entsprechenden Unterlagen, wie z.B. dem Sozialhilfebescheid oder Rentenbescheid, wird nach Prüfung eine Berechtigungskarte für die Marburger Tafel ausgestellt. Arbeitslose, die bisher mit ihrer Arbeitslosenhilfe über dem Sozialhilfesatz lagen, werden ab Januar 2005 zu Bedürftigen und damit potentielle Kunden der Marburger Tafel. Grund dafür: Die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II nach dem sogenannten Hartz IV Gesetz.Bei den Spendern handelt es sich um Herstellerfirmen, Groß- oder Einzelhandel, angefangen von dem großen Süßwaren-Hersteller in unserer Region, bis zu dem Bäcker der seine Überschüsse sogar selbst anliefert. Aus Gründen der Ehrlichkeit sollten die wirklich (!) großzügigen Spenden allerdings auch unter einem anderen Aspekt gesehen werden: So mancher Spender will durch seine Spende “nur” die Kosten für die Vernichtung sparen.

Damit die Waren an die Kunden verteilt werden können, müssen sie in der Regel zunächst einmal vom Spender abgeholt werden. Diesen Part übernehmen die Fahrer unter den aktiven Helfern der Tafel. Die angelieferten Lebensmittel müssen dann auf Verwendbarkeit geprüft und sortiert werden. Diese Arbeit übernehmen die Sortierer. Die Verteiler geben die Waren in die Körbchen. Sie müssen versuchen, die vorhandenen Lebensmittel gerecht zu verteilen. Die Ausgabe im Laden prüft die Berechtigung und gibt die fertigen Körbchen an die Kunden weiter. Ein weiterer Arbeitsbereich für die aktiven Helfer ist die Organisation im Büro. Alle Helfer leisten unbezahlte, ehrenamtliche Arbeit um die gespendeten Waren zu verteilen. Wer nicht aktiv bei der Verteilung mithelfen kann oder will, hat die Möglichkeit, die Tafel mit seinem Mitgliedsbeitrag oder Spenden zu unterstützen.

Neue Kunden können sich am jeweiligen 1. Montag eines Monats im Büro der Tafel informieren und mit Vorlage ihrer Unterlagen gegebenenfalls anmelden. Mit der dann erhaltenen Berechtigungskarte bekommt der Kunde einmal pro Woche für sich selbst sowie für jedes angemeldete Familienmitglied ein weiteres Sortiment (“Körbchen”) mit Lebensmitteln. Für das jeweils erste Körbchen eines Kunden ist ein symbolischer Preis von einem Euro zu zahlen. In Marburg werden pro Woche 1100 Personen mit Lebensmitteln versorgt.

Friedemann Wagner


Geschäftsstelle und Warenausgabe:Marburger Tafel e.V., Ernst-Giller-Straße 20, 35039 Marburg

Bürozeiten: Montag bis Freitag 10 bis 12 Uhr

Telefon: 06421/614053, Fax: 06421/614054

Web:www.marburgertafel.de

Mitglied im Bundesverband Deutsche Tafel e.V.

Spenden bitte auf folgende Konten:

Sparkasse Marburg-Biedenkopf: BLZ 533 500 00, Konto-Nr. 11 001 980

Marburger Bank: BLZ 533 900 00, Konto-Nr. 758 337

AKSB Marburg e.V.: 120.000 Euro mit einem Federstrich weg!

Viele Menschen in Marburg und in Hessen insgesamt haben mit großem Interesse in den letzten Monaten des Jahres 2003 die Presse verfolgt. Roland Koch hat unter dem Stichwort „Operation Sichere Zukunft“ die Zukunft für viele Menschen nicht nur im Waldtal aufs Spiel gesetzt.

Für den Arbeitskreis Soziale Brennpunkte e.V. ( AKSB) ist die Streichung der Landesmittel deshalb besonders dramatisch, weil der Verein bisher ein Drittel seiner Mittel vom Land Hessen bezog. Für 2004 fehlen dem Verein nun 120.000 Euro.

Trotz zahlreicher Proteste, an denen wir uns gemeinsam mit Kindern und Erwachsenen aus dem Stadtteil beteiligt haben (Demos am 15.10.03 und 18.11.03 in Wiesbaden; Demos und Straße der Solidarität in Marburg) ist es uns nicht gelungen, die Landesregierung von ihrem Vorhaben abzubringen. Wenigstens haben die zahlreichen Aktivitäten dazu geführt, dass die Stadt Marburg von ihrer vorgesehenen Kürzung unserer Mittel Abstand genommen hat.

Bei dem Wegfall von 120.000 Euro war schnell klar, dass Kündigungen vollzogen werden mussten. Wir haben drei Kolleg/innen in die Arbeitslosigkeit entlassen müssen.

Damit reduzierte sich die Personalkapazität des AKSB schon einmal um zwei Vollzeitstellen. Weitere Einschränkungen mussten durch Stundenreduzierungen vorgenommen werden. Damit entfiel zusammen gerechnet noch eine ¾ Stelle. Dies hatte selbstverständlich Auswirkungen auf unser Angebot. Unser Ziel bei der Umsetzung der Streichung war, den AKSB als Gemeinweseneinrichtung mit der Vielfalt seiner Arbeitsbereiche zu erhalten. Damit waren Einschränkungen in allen Arbeitsbereichen nötig. Besonders schmerzlich war, dass wir eine Schülergruppe mit 20 Plätzen schließen mussten, bei der Grundschulkinder von Montag bis Freitag ein verbindliches Betreuungsangebot mit Mittagstisch, Hausaufgabenbetreuung und Freizeitangeboten wahrgenommen hatten. Die Öffnungszeiten in der Sozialberatung mussten reduziert werden, Angebote für Frauen aus dem Stadtteil können nur noch sehr reduziert durchgeführt werden und auch die Aktivitäten im und für den Stadtteil mussten zurück gefahren werden.

Betroffen von der Streichung der Landesmittel sind wir auch dadurch, dass unsere Dachorganisation, die Landesarbeitsgemeinschaft Soziale Brennpunkte (LAG), ihr Personal kündigen musste und damit für uns als Beratungs- und Bildungsorganisation weggebrochen ist. Im Moment wird versucht, die Lobbyfunktion der LAG auf ehrenamtlicher Basis fortzuführen.

Hält man sich all dies vor Augen, kann es einem besonders übel werden angesichts der politischen Aussagen, die die Landesregierung als ihre Ziele formuliert. Was ist mit der Schaffung eines familienfreundlichen Hessen, wenn ich gerade besonders bedürftigen Familien ihr Unterstützungssystem zerschlage? Was ist mit der Offensive für Kinderbetreuung, wenn ich durch die Streichung Betreuungsplätze zerstöre? Was ist mit der Schaffung von Arbeitsplätzen, wenn ich durch meine Entscheidungen Hunderte von Stellen vernichte? Was ist mit der Integration in die Gesellschaft, wenn ich arme Menschen weiter ausgrenze?

Leider ist aktuell keine durchsetzungsfähige parteipolitische Alternative in Sicht. Die SPD agiert in Nordrhein-Westfalen in gleicher Weise. Und schaut man erst nach Berlin, wird deutlich, dass man sich einer fast alle Parteien einbeziehenden Koalition der Umverteilung gegenüber sieht. SPD und Grüne haben mit Hatz IV ein großes Programm aufgelegt, durch Arbeit für Mehrbedarf ein Zweiklassensystem im Beschäftigungssektor zu zementieren.

Dann kann doch alles gut werden für die sozialen Einrichtungen? Die Wohlfahrtsverbände wollen zahlreiche Stellen im Bereich Mehrbedarfs-Jobs zur Verfügung stellen. Dann können wir doch die Kolleg/innen, die wir zu Beginn des Jahres entlassen mussten, nun für einen, einen halben oder zwei Euro wieder bei uns beschäftigen. Sie können die Menschen aus dem Stadtteil, die zukünftig zur Arbeit für Mehrbedarf gezwungen werden, beraten, wie sie über diese Tätigkeit Existenz sichernde Arbeit im ersten Arbeitsmarkt finden. Sie können die Kinder betreuen, die Zuhause keine Ansprechpartner mehr finden, weil ihre Mutter oder ihr Vater gerade versucht, über die Mehrbedarfsarbeit in den ersten Arbeitsmarkt zu springen. Und sie können Gesprächskreise abhalten, in denen die Betroffenen sich über ihre neu gewonnene Würde austauschen können. Aber vielleicht lebt dann ja keiner mehr im Stadtteil, weil alle nach Ostfriesland oder Bayern gezogen sind, wo sie in Arbeit vermittelt wurden.

Ernsthaft: Die Arbeit der Kolleg/Innen, die durch die Streichungen der Landesregierung weggefallen ist, kann durch 1 Euro-Jobs nicht ersetzt werden. Wir benötigen nicht nur qualifizierte Kräfte, sondern auch eine Kontinuität in der Arbeit, da ohne eine stabile Beziehung zwischen Berater und Ratsuchendem, zwischen Pädagogen und Kindern keine fruchtbare Arbeit möglich ist. Und dazu bedarf es öffentlicher Mittel.

Christina Hey

Niedriglohn und atypische Beschäftigungsverhältnisse

Der Sozialabbau wird immer rabiater vorangetrieben. Folge dieser Politik ist langfristig eine zunehmende Verarmung breiter Bevölkerungsschichten. Wir, d.h. der AK Weltwirtschaft und WTO wollen feststellen, inwieweit atypische Beschäftigungsverhältnisse bzw. ein Niedriglohnsektor auch in Marburg bereits existieren. Zu diesem Zweck haben wir einige Interviews geführt, deren Ergebnisse statistisch sicherlich nicht aussagekräftig sind, aber sie bieten einen interessanten Einblick in Realitäten, die in der Presse normalerweise verdrängt werden.

Viele Personen wollten aus Angst vor Repressionen ihrer Arbeitgeber nicht interviewt werden. Dennoch gelang es uns mit zwei Personen zu sprechen, deren Aussagen in vielen Fällen als stellvertretend für ihre Kolleg/innen angesehen werden können. Den Interviewpartner-Innen haben wir absolute Anonymität zugesagt. Sie arbeiten im sozialen Bereich oder sind bei einer kommunalen Beschäftigungsgesellschaft angestellt.

Erosion der Normalarbeitsverhältnisse

Der Niedriglohnsektor zeichnet sich nach unseren Interviews dadurch aus, dass praktisch keine Normalarbeitsverhältnisse mit einer 35- bzw. 40-Studenwoche vorkommen, obwohl viele Beschäftigte dies anstreben. Einige Personen arbeiten 30 Stunden, andere nur 25 oder 14. Immer häufiger werden sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in 400-Euro-Jobs umgewandelt. Im Gesundheitssektor, insbesondere im Bereich der häuslichen Pflege, werden zunehmend auch illegale und damit völlig rechtlose Arbeitskräfte aus Osteuropa eingesetzt. Die Arbeitsverträge werden auch nicht mehr unbefristet geschlossen, sondern sie sind auf ein Jahr oder ein halbes Jahr befristet. Gegebenenfalls werden sie für eine weitere Periode verlängert. Das hat den Charakter von Kettenverträgen. Zudem wird häufig die gesetzlich mögliche Probezeit von 6 Monaten maximal ausgenutzt. Viele Beschäftigte haben also einen einjährigen Arbeitsvertrag mit einer sechsmonatigen Probezeit. Der gegebenenfalls abzuschließende neue Arbeitsvertrag sieht ebenfalls eine sechsmonatige Probezeit vor. Somit haben die Beschäftigten während der Hälfte des Jahres überhaupt keinen Kündigungsschutz und während der anderen Hälfte ist er stark eingeschränkt. Ein solches System erlaubt es, die Beschäftigten willkürlich zu heuern und zu feuern. Unter diesen Umständen traut sich niemand, Krankheiten auszukurieren. Eine Interviewpartnerin sagte, sie versuche die Krankentage so weit wie nur irgend möglich zu verkürzen, eine andere stellte fest „es braucht schon sehr viel, bis ich mich krankschreiben lasse“. Eher noch nimmt sie Antibiotika und Schmerztabletten. Im Gesundheitswesen fallen auch viele Überstunden an, die laut Arbeitsvertrag mit Freizeit abzugelten sind. Dies wird aber nie genau geregelt und die Beschäftigten trauen sich nicht, auf ihren vertraglichen Rechten zu bestehen, weil sie ja problemlos gefeuert werden können. Viele Sozialdienste sind durch die Kürzungsorgien der letzten Jahre chronisch unterbesetzt. Um die Patient/innen trotz Entlassungen ausreichend betreuen zu können, sind die Mitarbeiter/innen aus organisatorischen Gründen manchmal gezwungen, Doppelschichten von 15 Stunden (inkl. zwei Stunden Pause) zu schieben. Das ist eigentlich gesetzlich nicht gestattet, aber es wird selbst in den Arbeitsverträgen gefordert und es gibt keinen Widerspruch dagegen. Die meisten Beschäftigten sind froh, überhaupt Arbeit zu haben und hoffen, dass ihre Arbeitsverträge verlängert werden.

Entlohnung

Bei einer Interviewpartnerin, die im sozialen Bereich arbeitet, liegt der Lohn mit 1173 Euro Netto zwar weit unter dem bundesweiten Durchschnitt, ist aber höher als das Armutsniveau. Viele Beschäftigte im Niedriglohnsektor verdienen deutlich weniger und kommen nur auf Löhne, die kaum über dem Niveau der Sozialhilfe liegen, häufig sogar darunter. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Personen auf dem zweiten Arbeitsmarkt in Beschäftigungsgesellschaften angestellt sind. Das Sozialamt stockt den Lohn dann entsprechend auf. Selbst die Interviewpartnerin, die noch relativ gut verdiente, beklagte sich, dass der Lohn durch die in den letzten Jahren massiv gestiegenen Fixkosten zu einem großen Teil aufgezehrt wird. Insbesondere werden die Kosten für Miete, Strom, Heizung, kommunale Gebühren und sonstige Nebenkosten der Wohnung, sowie die Kosten im Zusammenhang mit einem Auto, die Zuzahlungen für den Arztbesuch und Medikamente und gegebenenfalls eine private Altersvorsorge angeführt. Soweit es irgend geht – so wird uns berichtet – wird versucht, Arztbesuche und Rezepte für Medikamente zu vermeiden. Häufig ist aber der Besitz eines Autos Voraussetzung für eine Tätigkeit in der ambulanten Pflege. Vielfach wird verlangt, dass die Beschäftigten ihre Patient/innen mit ihren Privatautos anfahren. Ihnen wird zwar ein Kilometergeld gezahlt, dieses deckt aber noch nicht einmal die Benzinkosten, geschweige denn die Kosten für Verschleiß und Reparaturen. In ländlichen Gebieten ist der öffentliche Personennahverkehr inzwischen so schlecht, dass ein Auto absolut notwendig ist, um überhaupt die Arbeitsstelle zu erreichen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Beschäftigten in Schichtdienst arbeiten. Die Interviewteilnehmer/innen sehen sich vom gesellschaftlichen Fortschritt ausgeschlossen. Sie nannten an Gütern, die sie gerne hätten aber sich nicht leisten können: Digitalkamera, Videocam, DVD-Recorder. Bestenfalls ist bei noch verhältnismäßig gutverdienenden Personen noch ein Kurzurlaub von einer Woche drin, bei den anderen selbst das nicht. Eine Teilnahme am kulturellen Leben sei nur sehr eingeschränkt möglich. Auch etwas aufwendigere Sportarten kommen nicht in Frage.

Gewerkschaften und soziale Bewegungen

Gewerkschaften und Betriebsräte sind in den Betrieben der von uns interviewten Personen nicht vorhanden. Dies liegt einerseits wohl an der geringen Betriebsgröße. Noch wichtiger ist aber, dass sich die Beschäftigten von ihnen keine Verbesserung ihrer Situation erhoffen. In ihrer Wahrnehmung ist nicht der Arbeitgeber der Hauptfeind, ganz im Gegenteil haben sie übereinstimmend berichtet, dass das Verhältnis zu ihm gut sei. Daran ändert offenbar auch die Willkür der Kettenarbeitsverträge nichts. Stattdessen wird die Regierung als der Schuldige für alle Verschlechterungen gesehen. Die Betriebe im sozialen Bereich kämpfen dagegen angeblich selbst ums Überleben und seien gezwungen, Leute zu entlassen oder ihnen weniger zu bezahlen. Gewerkschaften wären für diese Personengruppe also nur attraktiv, wenn sie ein explizit politisches Programm verfolgen und über eine reine Interessenvertretung hinausgehen würden. Eine interviewte Frau sagte, sie wünsche sich von den sozialen Bewegungen, dass sie einen Anstoß für eine Organisation der Betroffenen geben sollen, etwa um eine gemeinsame Kinderbetreuung einzurichten. Das würde insbesondere das Leben von allein erziehenden Müttern sehr erleichtern.

AK Weltwirtschaft und WTO

Berichte von Trainingsmaßnahmen

Auf den folgenden Seiten veröffentlichen wir drei Berichte von Trainingsmaßnahmen, die Arbeitslose zwangsweise über sich ergehen lassen müssen.

„Ihr Job ist die Jobsuche“ - Erlebnisse in einer Trainingsmaßnahme

Jeder Arbeitslose erhält eher früher als später die Einladung zu einer Trainingsmaßnahme. Wer die „Einladung“ zu einer solchen Maßnahme nicht annimmt, so wird im Anschreiben des Arbeitsamtes deutlich gemacht, wird mit einer dreiwöchigen Sperrzeit bestraft.

Mehrmalige Sperrzeiten führen schließlich zur völligen Streichung der Bezüge. Keiner wird verschont: Endfünfziger, die eigentlich nur noch auf die Rente warten, Arbeitslose, die bereits einen Arbeitsvertrag haben, Alleinerziehende Personen und Ausländerinnen, die kein Wort deutsch sprechen. Alleinerziehende werden bevorzugt in den Schulferien zur verpflichtet, was eine zusätzliche gewollte Belastung darstellt. Auch angemeldete Nebenjobs müssen aufgegeben werden, mit der Begründung, sie würden der Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt widersprechen. Und diese Verfügbarkeit wird durch die Teilnahme an einer derartigen Trainingsmaßnahme amtlich festgestellt.

Was soll trainiert werden? Den Arbeitslosen mangele es an der Fähigkeit, sich zu bewerben, an der Einsicht in die eigenen Stärken und Schwächen. So die offizielle Begründung. Es handelt sich also offiziell um eine Bildungsveranstaltung, mit deren Durchführung ein Privatunternehmen vom Arbeitsamt beauftragt wird.

Da sitzen wir dann eng zusammengedrängt, über dreißig Leute in einem Raum für maximal zwanzig Personen. Später erfahre ich den möglichen Grund dafür, dass dieser Kurs so überfüllt ist: Normalerweise bleibt etwa ein Drittel der Verpflichteten zu Hause und kassiert lieber eine Sperrzeit. Mit den dadurch eingesparten Geldern wird in der Regel die Maßnahme bezahlt. Insofern macht das Arbeitsamt diesmal ein schlechtes Geschäft. Fast alle machen diese Veranstaltung zum wiederholten Mal mit, einige sogar schon zum fünften Mal.

Vier Wochen dauert so eine Maßnahme, jeden Tag, inklusive Pausen, acht Stunden. Am Anfang gibt es den EDV-Tag. Da sitzen dann alle am Computer. Na ja, nicht alle, schließlich gibt es nur zwanzig Geräte. An diesem Tag lernen wir, wie man ins Internet kommt, eine Suchmaschine bedient und eine Jobbörse findet. Dinge, die praktisch jeder schon einmal gemacht hat. Neben mir sitzt eine Frau mit einer abgeschlossenen Umschulung als Multimediagestalterin. Alles Altbekannte wird uns aber vom „Dozenten“, dessen Hauptaufgabe tatsächlich die Überprüfung der Anwesenheit ist, noch einmal in aller erdenklichen Ausführlichkeit - eben so dass es über den ganzen Tag gestreckt ist - erklärt. Dasitzen und sich langweilen, mit den Sitznachbarn reden, in der Zeitung lesen oder im Netz surfen, ist der eigentliche Inhalt, und immer wieder auf die Uhr schauen.

In den nächsten Tagen geht´s weiter mit dem eigentlichen Bewerbungstraining. Dabei bekommen wir von unserer „Dozentin“, die sich ihr Geld als Ich-AG im Dienst des Arbeitsamts verdient, tolle Karrieretips: zum Beispiel den Vorschlag, DIN-A5 Flyer mit einem Kurzprofil von sich zu drucken und zu verteilen. Oder alle unsere persönlichen Kontakte zu nutzen, um an einen Job zu kommen. Das Prinzip, dass hier vermittelt wird, ist jedenfalls, alles dem Diktat der Ökonomie zu unterwerfen, also auch Hobbys und Freundeskreis. Und nach Möglichkeiten zu suchen, sich protegieren zu lassen.

„Ihr Job ist die Jobsuche!“ Man solle sich doch acht Stunden am Tag bewerben, lautet ein anderer Vorschlag. Wie das gehen soll, bei dem nicht vorhandenen Stellenangebot, wird nicht verraten. Statistisch erwiesen sei es, dass Arbeitslose umso eher eine Stelle finden, je öfter sie sich bewerben. Man könnte natürlich auch auf den Gedanken kommen, dass Leute, die sich häufiger bewerben, auch ein höheres Angebot an Stellen vorfinden. Beim Bewerbungszwang ist aber nicht der mögliche Erfolg einer Bewerbung ausschlaggebend, sondern die durch Bewerbungsschreiben und Absage dokumentierte Tatsache, dass man sich um „Arbeit bemüht hat.“ Das führt natürlich dazu, dass auf Druck der Arbeitsagentur auch völlig sinnlose Bewerbungen geschrieben werden, was nicht nur für die Arbeitslosen einigermaßen peinlich ist, sondern auch bei den solchermaßen zugemüllten Unternehmen auf wenig Gegenliebe stößt. Ergebnis dieser Praxis ist beispielsweise die Tatsache, dass immer weniger tatsächlich offene Stellen dem Arbeitsamt gemeldet werden.

Es gibt auch jede Menge Psychospielchen. Wir sollen uns auf die Suche nach dem „Karriereanker“ machen - mittels Fragebögen, die für angehende Führungskräfte in den USA entworfen wurden: „Für mich ist eine Tätigkeit als Leiter eines Funktionsbereichs auf meinem Fachgebiet attraktiver als meine Aufgabe im General Management“. Beantwortung dieser Fragen auf der Skala „Stimme sehr zu“ bis „Stimme überhaupt nicht zu“. Zu jeder Antwort gibt es eine Zahl. Schließlich heißt es zusammenzählen und, wie beim Psychotest in der Illustrierten, das Ergebnis nachschauen. Da gibt es den Karriereanker „DH - Dienst oder Hingabe für eine Idee oder Sache“ oder „TH - Totale Herausforderung: Alles und jeden besiegen müssen. Erfolg = unüberwindbare Hindernisse überwinden, immer größere Herausforderungen suchen.“ Wollt ihr die totale Herausforderung? Es gibt auch andere Fragebögen, die besser auf die eigene Situation passen. In bestimmten Trainingsmaßnahmen werden inzwischen Intelligenztests gemacht. Aber das macht das Ganze nicht besser: Das Übel liegt nicht in der Art der Fragen, sondern in der Unterstellung, Arbeitslosigkeit sei ein persönliches Defizit sowie in der Offenbarung persönlicher Dinge, die immer wieder eingefordert wird.

Trotzdem macht man diesen Blödsinn mit, schließlich will man nicht allzu sehr auffallen. Im Hintergrund steht stets die Drohung mit einem Ausschluss wegen „maßnahmewidrigem Verhalten“, was ebenfalls eine Sperrzeit nach sich zieht. Dazu kommt das Gefühl, dauern beobachtet zu werden. Zwar wird das Aufsichtspersonal der Maßnahme nicht müde, zu betonen, dass es dem Arbeitsamt keinen Bericht erstattet, aber was ist von solchen Beteuerungen schon zu halten? So stellt jedes dieser Psychospielchen, jeder dieser Fragebogen und jedes als Hilfsbereitschaft ausgegebenes „Beratungsangebot“ eine weitere Schikane dar, ein Stöckchen, über das man springen muss, ob man will oder nicht.

Auch ein „Einzelcoaching“ ist Teil der Maßnahme. Es dauert etwa eine Stunde, ist aber in dem am Ende der Maßnahme ausgeteilten Zertifikat mit vierzig Stunden verzeichnet. Allein das wirft ja schon ein bezeichnendes Licht auf die Seriosität der Veranstalter. Dabei ist jede Minute Zwangsberatung, ob in der Trainingsmaßnahme oder im Arbeitsamt, eine Minute zuviel. Ein Vertrauensverhältnis zu jemandem, der einem gleichzeitig droht, kann es sowieso nicht geben. Jeder dieser „Beratungstermine“, sei es innerhalb der Trainingsmaßnahme oder direkt beim Arbeitsamt, das sich inzwischen als Agentur bezeichnet, ähnelt einem Verhör. Die Frage ist immer: Wie komme ich da halbwegs unbeschädigt wieder raus? Die „bessere Betreuung“ der Arbeitslosen ist eine der schlimmsten Drohungen von Hartz IV. Schließlich gibt es noch das eigentliche Bewerbungstraining, bei dem zu x-ten Mal die Gestaltung einer Bewerbungsmappe und das Verhalten in einem Bewerbungsgespräch durchgekaut wird.

So ziehen die Tage allmählich vorüber. Die täglich acht Stunden dauernde Maßnahme wird mit dem ständigen Blick auf die Uhr abgesessen, jede Gelegenheit, den sinnlosen Vorträgen, vorzugsweise mit dem Gang in die Cafeteria zu entfliehen, wird genutzt. Das Prinzip der Veranstaltungen läuft im Allgemeinen so: Eine dreiviertel Stunde „Vortrag“, dann eine dreiviertel Stunde „Gruppenarbeit“. Besonders wichtig ist es, fünf Minuten vor der Mittagspause und vor Schluss der Veranstaltung noch einmal im Übungsraum zu erscheinen, damit sich auch ja niemand vorher absetzt. Gegen Ende der Maßnahme erhalten wir noch mal einen Fragebogen, der allerdings dem Arbeitsamt abgeliefert werden muss und wie folgt aufgebaut ist: „Wo sehen sie sich in drei (sechs, neun, zwölf) Monaten? Wenn ihre bisherigen Bemühungen keinen Erfolg hatten, was sind sie bereit, dann zur Beendigung ihrer Arbeitslosigkeit zu tun (eine minder qualifizierte Arbeit annehmen, den Ort wechseln etc.)?“ Dieser Fragebogen solle als Grundlage für Gespräche mit unseren Arbeitsberatern dienen. Es ist der Prototyp eines jener Eingliederungsverträge, die mit Hartz IV für jeden Arbeitslosen verbindlich werden.

Das Arbeitsamt ist tatsächlich immer weniger in der Lage, Stellen zu vermitteln. Auf diese Situation wird mit verschärften Zwangsmaßnahmen gegen die Arbeitslosen reagiert. So war es der erhöhten Zahl von Sperrzeiten zu verdanken, dass trotz Rezession 2003 die offizielle Zahl der Arbeitslosen nicht gestiegen ist. Seit diesem Jahr gelten auch Teilnehmer an Trainingsmaßnahmen nicht mehr als arbeitslos.

Dabei ist es offensichtlich für die Entwicklung der Arbeitslosigkeit völlig gleichgültig, ob sich alle Arbeitslosen pausenlos bewerben oder ob ein Teil von ihnen die Jobsuche resigniert aufgibt und sich in der Arbeitslosigkeit einrichtet. Mit fundamentalistischer Besessenheit wird an dem Dogma „niemand darf sich dem Arbeitsmarkt entziehen“ festgehalten. Während der Arbeitsmarkt schrumpft und es damit immer schwieriger wird, einen Job zu finden, wird den Arbeitslosen gleichzeitig dieser Umstand als persönliche Schuld oder Versagen angekreidet, auf die mit verschärftem Druck und Umerziehungsmaßnahmen reagiert werden muss.

Dafür werden keine Kosten gescheut - was bei der Senkung der Arbeitslosenhilfe eingespart wird, wird für den bürokratischen Aufwand des „Fördern und Forderns“ wieder ausgeben. Auf diese Art werden dann doch wieder Arbeitsplätze geschaffen: Als „Dozent“ bei Trainingsmaßnahmen, als „selbständiger“ Subunternehmer, der solche Maßnahmen organisiert oder als Fallmanager bei der Arbeitsagentur.

Was willst du eigentlich? Einen Arbeitsvertrag? - Die Trainingsmaßnahmen beim Arbeitsamt -

Es gibt über Sinn und Unsinn der bekannten Trainingsmaßnahmen des Arbeitslosenamtes eigentlich nicht mehr viel zu sagen. Im Sommer 2003 ist es dem Marburger Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger gelungen, auf die unhaltbare Praxis dieser Trainingsmaßnahmen aufmerksam zu machen. Auf Arbeitsplätzen, Straßen und Märkten, in Presse, Funk, Fernsehen, im Internet, Wohnzimmer und beim Gartengrill wurde darüber diskutiert und kaum ein Beteiligter konnte über diesen Schwachsinn der Trainingsmaß- nahmen nicht den Kopf schütteln. Das Kopfschütteln hat seitdem nicht nachgelassen, gleichwohl werden die gymnastischen Übungen der Gesellschaft inzwischen nicht mehr mit gleicher Aufmerksamkeit bedacht.

Diese Trainingsmaßnahmen gehen weiter und es gibt keine Möglichkeiten, keine juristischen, keine politischen und keine publizistischen, dem laufenden Schwachsinn Einhalt zu gebieten. Also bleibt den Betroffenen und denen, die davon in Zukunft betroffen sein werden, nichts anderes übrig, als schwer durchzuatmen und sich zu beugen. Die Bürokratie hat sich durchgesetzt, und sie hätte es nicht einmal nötig gehabt, sich zu blamieren. Tatsächlich aber ist es beispielsweise dem Marburger Direktor des Arbeitslosenamtes Waldemar Droß gelungen, sich dem Gelächter von Zeitungsleser/innen auszusetzen, und dies, obwohl es einer wie auch immer schwachsinnig begründeten Verteidigung dieser Trainingsmaßnahmen gar nicht bedurft hätte.

Die Trainingsmaßnahmen dienen der sogenannten „Verfügbarkeitskontrolle“ und, ob einem das zusagt oder nicht, diese Verfügbarkeitskontrollen dienen nicht dem Zweck der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, sie dienen nicht dem Zweck einer Humanisierung der Gesellschaft, sondern der Bekämpfung von Arbeitslosen. In dieser Hinsicht - so könnte man es sehen - sind diese Trainingsmaßnahmen tatsächlich nichts anderes als Trainingsmaßnahmen, die der Realität der Menschenschikane in der Arbeitswelt gerecht werden. Die dahinter steckende Vernunft ist genauso einfach wie pragmatisch: Es ist unmöglich, mehrere Millionen Menschen auf nicht vorhandene Arbeitsplätze zu vermitteln. Um herauszufinden, wen man denn vermitteln kann, sorgt man dafür, dass diejenigen, die sich der Kontrolle entziehen, als nicht verfügbar deklariert werden, um sie damit aus dem Bezug von Leistungen herauszunehmen. Dadurch kann man mit der gleichen Klappe eine zweite Fliege schlagen: diejenigen, die sich der Verfügbarkeitskontrolle unterwerfen, können ebenfalls als nicht verfügbar deklariert werden, weil sie ja für die Dauer der Teilnahme dem Arbeitsmarkt entzogen sind. Sie erhalten zwar weiter Leistungen, werden aber nicht mehr mit gezählt. Das ist eine tolle Sache. Das tollste an dieser Sache ist übrigens, und darauf haben viele bisher nicht geachtet: diese Trainingsmaßnahmen sind nicht nur schwachsinnig, sie dienen außerdem als Bollwerk gegen die Notwendigkeit der Errichtung von Arbeitslagern, welche durchzusetzen eigentlich in der Logik der Sache läge. Doch wird dies einstweilen noch am Widerstand der Bürokratie scheitern, so lange diese Trainingsmaßnahmen unter dem verlogenen Vorwand der Qualifizierung und Weiterbildung laufen. Wie ist das zu verstehen?

Eine moderne Markt- und Industriegesellschaft kann nur funktionieren unter der Bedingung einer legitimen Verfügungsgewalt über Menschen, die durch den freiwilligen Abschluss von Arbeitsverträgen sicher gestellt wird. Dies jedenfalls gilt als die juristische wie ökonomische conditio sine qua non. Niemand muss Erwerbsarbeit leisten, es reicht völlig, wenn man will. Wenn man nicht will, nun, dann geht es nicht. Durch Arbeitsverträge werden Rechte und Pflichten geregelt, dazu gehört auch die Solidaritätspflicht, welche besagt, dass man in die Arbeitslosenversicherung einzuzahlen hat, ob man dies will oder nicht. Das Recht auf Auszahlung von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe hat man aber nur dann, wenn man eben dies nicht eigentlich haben will, sondern etwas ganz anderes, nämlich einen Arbeitsvertrag zuzüglich der darin enthaltenen Solidaritätspflicht.

Soweit wäre die Sache, wenn auch irgendwie kurios, in Ordnung. Was die Ordnung stört, ist die Tatsache, dass fast alle erwerbsfähigen Menschen einen Arbeitsvertrag wollen in einer Zeit, in welcher gleichzeitig durch Technisierung und Rationalisierung die Verfügbarkeit über Menschen weniger notwendig wird, weil man Maschinen hat, über welche zu verfügen nicht nur kostengünstiger, sondern auch wesentlich schneller ist, um so dem globalen Konkurrenz- und Innovationsdruck einigermaßen gewachsen zu sein. Was macht man denn nun mit den vielen Menschen, die sich der legitimen Verfügbarkeit durch Arbeitsverträge zur Verfügung stellen wollen? Man verschärft die Prüfung ihres Willens! Aus diesem Grunde gibt es diese Trainingsmaßnahmen.

Und was spräche gegen eine weitere Verschärfung? Arbeitslager, aber freiwillig. Wer nicht will, nun, der will nicht, will also keinen Arbeitsvertrag, keine Solidaritätspflicht usw. Da nun gleichzeitig allen klar ist, dass Arbeitslager das Allerletzte wären, bleiben diese Trainingsmaßnahmen das Vorletzte. Wer also meint, diese Trainingsmaßnahmen seien der größte Schwachsinn, hat noch nicht nach einer Gesellschaft gefragt, unter deren Bedingungen so etwas möglich ist. 

„Kompetenztraining“ - ein Mittel gegen Arbeitslosigkeit?

Schon seit geraumer Zeit führt die Bundesagentur für Arbeit sogenannte „Trainings“- bzw. „Feststellungsmaßnahmen“ durch, um die immer weiter steigenden Arbeitslosenzahlen einzudämmen. Angebliches Ziel dieser Maßnahmen ist es, Arbeitslose bei der Entwicklung neuer beruflicher Perspektiven zu unterstützen und so schneller wieder in Arbeit zu bringen. Tatsächlich lassen die Praktiken, mit denen solche Maßnahmen durchgeführt werden, Zweifel nicht nur an der Effektivität, sondern vor allem auch an der angeblichen Zielsetzung aufkommen.

Die Marburger Agentur für Arbeit veranstaltet die Maßnahmen nicht selbst, sondern beauftragt private Bildungsträger mit deren Durchführung. Die Rahmenkonzeption wird von der Agentur vorgegeben. Die privaten Bildungsfirmen reichen ihre Angebote ein, wobei das billigste in der Regel den Zuschlag erhält. Einer der in Marburg aktiven privaten Bildungsträger ist das Bildungswerk der Hessischen Wirtschaft e.V., das von der Vereinigung der hessischen Unternehmerverbände e.V. getragen wird. Das Bildungswerk führt sogenannte „Kompetenztrainings“ von vierwöchiger Dauer durch, zu denen die Agentur Arbeitslose unter Androhung von Leistungskürzungen „einlädt“.

„Kompetenztraining“ bedeutet: Die Teilnehmer dieser Maßnahmen müssen dem Kursleiter ihre Lebensläufe, Zeugnisse und sonstigen Bewerbungsunterlagen vorlegen und sich einem Intelligenztest („IST 2000 R“) unterziehen. Dies gilt auch für promovierte und habilitierte Akademiker. Darüberhinaus finden „Übungen zur Selbsteinschätzung“ statt. Hierzu gehören neben psychologischen Tests auch Vorträge über ihren persönlichen und beruflichen Werdegang, zu denen die Teilnehmer genötigt werden. Außerdem wird ein Bewerbungstraining durchgeführt, in dem die Teilnehmer lernen sollen, sich selbst zu vermarkten. Am Ende der Maßnahme füllt der Kursleiter über jeden Teilnehmer einen mehrseitigen Beurteilungsbogen aus, der an die Agentur für Arbeit weitergeleitet wird.

In Anbetracht der Tatsache, dass die Arbeitslosen den Kurs nicht freiwillig besuchen, sondern von der Agentur für Arbeit dort eingewiesen werden, erscheint diese Vorgehensweise sowohl im Hinblick auf den Datenschutz als auch was die Würde des Einzelnen anbelangt, äußerst problematisch. Weigert sich ein Teilnehmer, an den „Übungen“ teilzunehmen, sind Abmahnungen durch den Kursleiter möglich, die schließlich zur Sperrung des Arbeitslosengeldes oder der Arbeitslosenhilfe führen können. Auch die Praxis des Bildungswerks der Hessischen Wirtschaft, die unfreiwilligen Kursteilnehmer zur Unterzeichnung eines „Schulungsvertrages“ zu nötigen, mutet rechtlich sehr fragwürdig an. Dies vor allem auch wegen der im Vertrag enthaltenen Klausel, dass die Kosten des Lehrganges „in der Regel“ vom Arbeitsamt übernommen werden. Demnach können anscheinend die Kosten im Einzelfall auch dem Teilnehmer / der Teilnehmerin aufgebürdet werden. Was die Effektivität der Kompetenztrainingskurse anbelangt, so liegen nach Aussage einer Kursleiterin keinerlei Informationen über Erfolgsquoten oder verbesserte Vermittlungschancen für die Teilnehmer vor. Da viele Arbeitslose jedoch immer wieder in ähnliche Kurse gesteckt werden, kann der Nutzen für die Teilnehmer nicht sehr hoch sein. Auch lässt die Tatsache, dass die „Kompetenztrainingskurse“ von Honorarkräften durchgeführt werden, die selbst kaum über Berufserfahrung verfügen und weitaus geringer qualifiziert sind als die meisten Teilnehmer, erhebliche Zweifel an der Kompetenz der Kursleiter sowie an der Seriosität privater Bildungsträger aufkommen.

Die Kompetenztrainingskurse des Bildungswerks der Hessischen Wirtschaft erheben den Anspruch, „wirtschaftsnah“ stattzufinden. Tatsächlich werden in den vier Kurswochen keine Kontakte zu Wirtschaftsunternehmen vermittelt. Auch die im Kursprogramm vorgesehene Analyse der regionalen Arbeitsmarktsituation findet nicht statt. Vermittelt wird den Arbeitslosen, sie seien selbst verantwortlich für ihre Situation. Diskussionen über die Zustände auf dem Arbeitsmarkt und die politischen Ursachen für die gegenwärtige wirtschaftliche Entwicklung sind unerwünscht und werden bewusst ausgeklammert. Der Effekt, der vor allem bei Personen erzielt wird, die zum wiederholten Mal an solchen Maßnahmen teilnehmen müssen, ist das Aufkommen von Selbstzweifeln, dem Gefühl, der Willkür von Behörden ausgeliefert zu sein und von Frustration - sicher keine gute Basis, um sich selbstbewusst auf dem immer enger werdenden Arbeitsmarkt zu behaupten. Es stellt sich die Frage nach dem Nutzen der für den Steuerzahler kostspieligen Maßnahmen. Der Nutzen für die Agentur für Arbeit liegt zunächst darin, dass die Teilnehmer entsprechender Kurse vorübergehend aus der Arbeitslosenstatistik herausgerechnet werden können. Darüber hinaus spekuliert die Behörde offensichtlich von vornherein darauf, dass sich ein Teil der Arbeitslosen aufgrund des psychischen Drucks in den Kursen freiwillig aus dem Leistungsbezug abmeldet oder wegen Nichterscheinens eine Sperre der Leistungen erhält. Wie sonst ist es zu erklären, dass zu Kursen, die maximal 16 Personen aufnehmen können, 30 Personen „eingeladen“ werden? Die Nötigungspolitik der Agentur für Arbeit geht sogar so weit, dass Personen, die sich mit Fördermitteln der Agentur selbständig zu machen versuchen, in diese Vollzeitkurse gezwungen werden, so dass sie daran gehindert werden, ihr junges Unternehmen aufzubauen. Diese Vorgehensweisen sparen der Agentur zwar kurzfristig Geld, ändern aber nichts an der Tatsache, dass mehr als 4,5 Millionen Menschen in der Bundesrepublik ohne Arbeit sind. Nutznießer dieser „Arbeitsmarktpolitik“ sind vor allem die privaten Bildungsträger, deren Existenz maßgeblich von der Auftragsvergabe durch die Agentur für Arbeit abhängt. Hier wurde ein künstlicher Markt geschaffen, der es ermöglicht, öffentliche Mittel abzuschöpfen, ohne dass eine Verbesserung der Lage eintritt.

Vor diesem Hintergrund sind Zweifel berechtigt, ob es überhaupt Ziel der Agentur für Arbeit ist, Erwerbslose in Arbeit zu bringen oder ob nicht vielmehr die Reduzierung der Leistungsbezieher im Vordergrund steht. Verlierer dieser Praktiken sind sowohl Erwerbslose als auch Steuerzahler und damit letztendlich die Allgemeinheit.

Rede auf der Marburger Demo gegen Sozialabbau

 

Rede auf der Marburger Demo gegen Sozialabbau, 23.08.2004 / Marburg

Montagsdemo? Ist es nicht zynisch, an die Tradition der Menschen anzuknüpfen, die sich gegen eine Diktatur erhoben? Nein, ist es nicht, denn wieder wird in Ostdeutschland und jetzt auch hier gegen eine Diktatur gekämpft, die immer mehr um sich greift und die Politik von Schröder & Co dominiert: die Diktatur des Marktes, die Diktatur der Standortkonkurrenz, die Diktatur des privaten Profits!

Liebe Marburgerinnen und Marburger,

bisher wurde Hartz IV hauptsächlich wegen der vorgesehenen Leistungskürzungen und der Anrechnung von Einkommen kritisiert. Das ist schlimm genug, aber nicht der Kern des Problems.

Viele Personen, die von ihrer Einkommenssituation her berechtigt sind, Arbeitslosengeld II zu beziehen, werden es dennoch nicht bekommen. Denn ein Rechtsanspruch besteht nicht mehr, die Entscheidung über die Leistungsgewährung ist der Willkür der Fallmanager überlassen. Und die dürfen Geldzahlungen nur dann gewähren, wenn die Arbeitslosen einen Eingliederungsvertrag unterzeichnet haben und nach Meinung des Fallmanagers überhaupt eine Vermittlungschance haben.

Was passiert aber mit den anderen? Das ist unbekannt. Vielleicht gibt aber das Mannheimer Sozialamt einen Ausblick auf die Zukunft von Hartz IV. Hermann Genz, der Leiter dieses Sozialamtes brüstete sich, 550 Personen durch Schikanen aus dem Sozialhilfebezug gekegelt zu haben. Wovon diese Personen leben sollen, kümmert ihn offensichtlich nicht.

Hartz IV wird auch dazu führen, dass sich Zwangsarbeit in großem Umfang durchsetzen wird. Schon heute nutzt das Unternehmen Praxis GmbH die Arbeitskraft von ZwangsarbeiterInnen etwa bei einem Umzugsservice. Es ist uns auch ein Fall bekannt, wo eine Person ebenfalls Zwangsarbeit in einer Verwaltungsstelle der Stadtverwaltung von Marburg leistet.

Dies wird sich mit Hartz IV verallgemeinern. Wirtschaftsminister Clement geht von mindestens 600.000 Personen aus, die in Billigjobs für einen Euro die Stunde arbeiten werden müssen. Dieser Lohn wird dann gegebenenfalls auf das Niveau des Arbeitslosengeldes II aufgestockt. Wer sich weigert, dem werden alle Leistungen gestrichen. Dies rechtfertigt es, von Zwangsarbeit zu sprechen: Wer nicht für diesen Hungerlohn arbeitet, verliert die Möglichkeit, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Wer alle Zwangsmaßnahmen mitmacht, gibt damit den Rest eines selbstbestimmtes Leben auf. Die Hartz-Gesetze treten die Würde des Menschen mit Füßen.

Es heißt, diese Tätigkeiten sollen keine Arbeitsplätze gefährden – das aber ist unrealistisch. Der hochverschuldete Landkreis Marburg-Biedenkopf will ab dem nächsten Jahr die Betreuung der Arbeitslosen selbst übernehmen. Das lässt sich kostendeckend aber nur realisieren, wenn in kommunalen Betrieben und Verwaltungen massenhaft tariflich gebundene Arbeitskräfte entlassen und durch ZwangsarbeiterInnen ersetzt würden. Mit der vollständigen Umsetzung von Hartz IV und der Durchsetzung dieser Logik werden in einigen Jahren in der Kranken- und Altenpflege, der eigentlichen Verwaltung, bei der Müllabfuhr und im öffentlichen Personennahverkehr hauptsächlich ZwangsarbeiterInnen beschäftigt sein.

Die Agentur für Arbeit kann ihre ZwangsarbeiterInnen zukünftig auch an Privatbetriebe ausleihen. Daneben wird die Angst vor dem sozialen Abstieg bei Verlust des Jobs die Arbeitenden weiter in die Defensive bringen. Unsicherheit, Angst, Konkurrenzkampf und der Abbau von Rechten wird dazu führen, dass sich der Lohn für einfache Tätigkeiten in einigen Jahren auf dem Niveau des Arbeitslosengelds II einpendelt.

Damit landen wir bei frühkapitalistischen Verhältnissen. Denn die ZwangsarbeiterInnen haben keine festen Arbeitszeiten, kein Streikrecht und für sie gilt auch nicht die Unverletztlichkeit der Wohnung, die von MitarbeiterInnen des Arbeitsamtes jederzeit durchsucht werden kann. Letztendlich werden sie wie Kriminelle auf Bewährung behandelt.

Warum das alles? Die Lohnkosten sind Deutschland zu hoch, wir verlieren unsere Wettbewerbsfähigkeit! Hans-Werner Sinn, Präsident des IFO-Instituts für Wirtschaftsforschung, propagierte diesen Unterbietungswettbewerb um Niedriglöhne am 4.4.2004 bei Sabine Christiansen, Zitat: „Wenn wir schon nicht mehr gut sind, dann müssen wir wenigstens billig sein.“ Diesem Zweck dient auch Hartz IV. Die Löhne sollen nachdrücklich gesenkt werden.

Dabei gliedert sich Hartz IV ein in eine ganze Reihe von Maßnahmen auf deutscher, europäischer und globaler Ebene. Auch die EU-Kommission bereitet mit der sog. Bolkestein-Richtlinie zur Liberalisierung des Dienstleistungssektors ein Programm vor, dass unter anderem zu einem massiven Lohndumping führen wird.

Weltweit sind mindestens eine Milliarde Menschen arbeitslos oder unterbeschäftigt. In den Entwicklungsländern sind die Löhne deshalb extrem niedrig. ArbeiterInnen in der Elektronischen Industrie in Shenzen / China verdienen 37 $ pro Monat, damit z.B. die dort produzierten Fernseher auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig sind, wir billig einkaufen können und die Konzerne trotzdem noch Gewinne einfahren. Von 37$ im Monat kann niemand leben, selbst in China nicht und erst recht nicht bei uns. Wer also einen Unterbietungswettbewerb um Niedriglöhne startet, setzt weltweit eine massive Spirale der Verarmung in Gang.

Es geht bei Hartz IV ja nicht darum, dass wir im reichen Norden auf etwas verzichten müssen, damit es den Menschen im Süden besser geht. Im Gegenteil: der Druck auf die arbeitenden Menschen, den der Menschlichkeit beraubten „Faktor Arbeit“ wird durch Hartz auf globaler Ebene erhöht. Soll tatsächlich die große Mehrheit der Menschheit unter immer schlechteren Bedingungen leben, damit die Gewinne von Konzernen und Kapitalanlegern in gewohnter Weise erhalten bleiben?

Wir dürfen diesen Wahnsinn nicht mehr länger mitmachen! Verweigern wir uns diesem Unterbietungswettbewerb! Eine Alternative sind Mindestlöhne und ein allgemeines Existenzgeld: Denn von seiner Arbeit muss ein Mensch leben können – aber ohne Arbeit auch!

  • alle müssen in Würde leben könnten, ohne Schikanen, ohne Zwang, ohne Druck.

Fragen wir nicht, wie billig die Arbeit sein muss, damit die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähig bleibt – d.h. damit weiterhin hohe Profite gemacht werden können. Fragen wir, wie wir leben wollen, wie viel dafür gearbeitet werden muss und wie wir diese Arbeit solidarisch verteilen!

Es ist genug für alle da! Wenn wir aber fragen, wer Einfluss auf die Verteilung hat, wie Macht und Eigentum verteilt sind, stellen wir fest, dass es mit unserer Demokratie nicht weit her ist! Darum muss der Protest weiter gehen, sich ausbreiten,

  • um den neoliberalen Wolf im nur noch schlecht getarnten sozialdemokratischen Schafspelz zu stoppen
  • um uns einzumischen und echte Demokratie einzufordern
  • um soziale Sicherheit und ein menschenwürdiges Leben für alle zu erkämpfen

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Redner: Dominik Fette, Entwürfe: tian

Der aktivierende Staat macht mobil

Auswirkungen des „Forderns und Förderns“

Nach fast dreißig Jahren stetig ansteigender struktureller Massenarbeitslosigkeit wird im herrschenden Diskurs nach deren Hintergrund und den zugrundeliegenden Ursachen kaum noch gefragt. Stattdessen dreht sich der Streit nur noch um die Effektivität unterschiedlicher Methoden der Entsorgung des Problems – natürlich immer unter der Überschrift von „Lösungsansätzen“. Mit den Ansätzen der „Verfolgungsbetreuung“ und des „Forderns und Förderns“ kristallisieren sich dabei zwei zentrale Konzepte heraus, die sich bei näherem Blick jedoch nur als Varianten desselben erweisen. Beide sind gleichermaßen scheußlich. Es geht um unterschiedliche Formen der Abwicklung des bisherigen Wohlfahrtsstaates, bei gleichzeitiger Tabuisierung und praktischer Erschwernis von emanzipatorischen Alternativen. Insbesondere die Debatte um die so genannten „Hartz-Reformen“ hat dies deutlich gezeigt.

Die Verfolgungsbetreuung

Die Regierung verweist darauf, dass die „Reformen“ zu greifen beginnen. Als Beleg führt sie statistische Effekte an, nach denen Anfang 2004 die Zahl der Arbeitslosen zurück gehe. Auffällig an diesem „Beschäftigungswunder“ ist aber der gleichzeitig sich vollziehende reale Rückgang der Beschäftigung. Neben neuen statistischen Tricks basiert der Rückgang der Arbeitslosigkeit darauf, dass weniger Menschen Anspruch auf Lohnersatzleistungen haben und deswegen auch nach herkömmlichen Kriterien nicht mehr in der Statistik geführt werden müssen. Durchaus zu Recht wird dies von Florian Gerster, dem ehemaligen Chef der Bundesanstalt für Arbeit, als Effekt der Reformen gewertet. Neben der verschärften Vermögensanrechnung der Einkommen von Lebenspartnern, der vor allem dazu geführt hat, dass viele Frauen keinen Anspruch mehr auf staatliche Leistungen haben, hat der stärkere Druck auf Arbeitslose dazu geführt, dass die „unechten Arbeitslosen“ (Gerster) erwischt wurden, und durch Aussteuerung aus dem Leistungsbezug nicht mehr als arbeitslos gelten. Der Begriff der „Verfolgungsbetreuung“ drückt diese verschärfte Praxis der Arbeitsverwaltung treffend aus.

Die Statistik wird bereinigt und die Herausgefallenen werden ohne materielle Zuwendung in eine stetige Verarmung entlassen. Der Staat erklärt bestimmte Menschen nun auch für überflüssig, nachdem der Markt dies vorher schon getan hat.(1)  Mitarbeiter des Personalrats des Landesarbeitsamtes NRW beschreiben die Folgen: „Der BA Vorstand fordert Arbeitslosengeldeinsparungen in Höhe von 2,89 Mrd. Euro für das Jahr 2003. Dabei schätzen die verantwortlichen in der BA zu Recht ein, dass mit einer gutwilligen Rückgabe der Gelder durch die Arbeitslosen nicht zu rechnen ist. Also verpflichtet man die Arbeitsämter, diese Summen einzutreiben. Das Einsparzauberwort heißt Sperrzeit und die dazu notwendigen Maßnahmen werden im BA-Unwort des Jahres zusammengefasst: Den Arbeitslosen droht die „Verfolgungsbetreuung“. Konkret bedeutet das, jede mögliche und unmögliche Gelegenheit zur Verhängung einer Sperrzeit wird genutzt. Der Druck auf die Arbeitslosen macht auch vor den Kolleginnen und Kollegen in den Ämtern nicht halt. Es werden Hitlisten eingerichtet, mit dem Ziel, zu schauen, wer in welcher Zeit wie viele Sperrzeiten verhängt. In der Arbeitsvermittlung verschärft sich der Umgangston mit den Arbeitslosen, in der Leistungsabteilung brechen die Kolleginnen und Kollegen unter der Flut von Leistungseinstellungen und Sperrzeitbescheiden zusammen. Die Frage, ob berechtigte oder unberechtigte Sperrzeit ist vollkommen unerheblich, in jedem Fall aber störend und somit unerwünscht.“

Fordern und Fördern

Nun bleibt diese Politik natürlich nicht unkritisiert. Der vorherrschende Einwand besteht jedoch darin, dass sie nicht konsequent genug verfolgt wird. Gelegentlich wird auch moniert, mit diesen Maßnahmen bekämpfe man nur die Arbeitslosen, nicht aber die Arbeitslosigkeit. Allein dieses „nur“ ist verräterisch, die Bekämpfung der Arbeitslosen soll keineswegs unterlassen werden, es soll allerdings noch was hinzukommen. Diese sollen vielmehr „gefordert und gefördert“ werden. Paradoxerweise steht jedoch die aktuell betriebene Politik genau unter diesem Leitbild. Von Vertreten des „Forderns und Förderns“ wird daher darauf hingewiesen, dass dieser Ansatz von den Praktikern des Arbeitsamtes offensichtlich falsch verstanden worden ist. So heißt es bei Fretschner, Hilbert und Stöbe-Blossey (2003): „Auf der individuellen Ebene der sozialen Arbeit steht die Verknüpfung von Fördern und Fordern im Mittelpunkt. Dies kann- etwa bei sozial- und arbeitsmarktpolitischen Programmen - gegebenenfalls auch bedeuten, dass die Ablehnung von staatlichen Förderangeboten mit Sanktionen belegt wird - allerdings nur wenn geeignete, individuell passgenaue Förderangebote überhaupt gemacht werden. Diese Verknüpfung von Fordern und Fördern wird in der öffentlichen Diskussion gerne übersehen: Teilweise werden unter Berufung auf das Leitbild des aktivierenden Staates beispielsweise pauschal Leistungskürzungen für arbeitsunwillige Arbeitslose gefordert, ohne zu hinterfragen, ob geeignete Angebote überhaupt existieren (...). Die Verknüpfung von Fordern und Fördern bedeutet zunächst eine steigende Anforderung an Sozialpolitik und soziale Arbeit, verstärkt geeignete Angebote für sehr unterschiedliche Zielgruppen zu entwickeln. Dies heißt eben auch, dass bei bestimmten Gruppen zunächst das Wollen Können unterstützt werden muß. Die Androhung von negativen Sanktionen im Falle der Ablehnung kann in der Tat nicht für sich genommen eine Verhaltensänderung in eine bestimmte Richtung bewirken, sie kann jedoch verknüpft mit geeigneten Angeboten eine unterstützenden Funktion einnehmen - nicht mehr aber auch nicht weniger.“

Da stellt sich natürlich die Frage, was ein „geeignetes Angebot“ ist. Es ist auf jeden Fall eines, das nicht abgelehnt werden kann, ohne negative Sanktionen zu befürchten. Üblicherweise nennt man so etwas Zwang. Über diesen Zwang soll eine Verhaltenskorrektur erreicht werden. Sie soll darin bestehen, dass die Betreffenden das wollen, was ihnen aufgezwungen wird. Es zielt also auf deren Einstellungen: Sie sollen dasjenige als ganz in ihrem Sinne begreifen, was ihnen von anderen angetan wird. Dass sie es vielleicht selber als sinnlos empfinden, weil sie sich keine Verbesserung ihrer Situation davon versprechen, spielt keine Rolle. Vielmehr ist die Uneinsichtigkeit Anlass für eine Verschlechterung. Diese soll dazu führen, dass das zunächst abgelehnte Angebot doch noch als sinnvoll begriffen wird. Die verschlechterte Lage dient als gerechte Strafe für den Eigensinn. Dem Arbeitslosen soll klar werden, diesen gefälligst aufzugeben, wenn er in dieser Gesellschaft noch eine Perspektive haben will, er aber ansonsten seine Existenzberechtigung darin verliert. Nur dann bekommt er noch eine „zweite Chance“. Als solche hat z. B. Stoiber die Sozialhilfe bezeichnet. Der Hintergrund ist, dass ein Arbeitsloser, der bisher Leistungen vom Arbeitsamt bezogen und dann die Anspruchsberechtigung verloren hat, weil er eine ihm angetragene Maßnahme ablehnte oder gar zu offenkundig sein Missfallen ausdrückte, bisher wenigstens noch auf die Sozialhilfe ausweichen konnte. Solange diese noch als armutsfeste Grundsicherung ausgestaltet war, die selber nicht gekürzt werden konnte, waren der Bedrohung zumindest noch Grenzen gesetzt. Zwar konnten bisher Zuwendungen prinzipiell auch gestrichen werden, die Verwaltungspraxis sah allerdings nicht zuletzt wegen der institutionellen Trennung der Arbeitslosen- und Sozialhilfe anders aus. So dass es in der Regel zu keinen Streichungen von Leistungen kam und die Grundsicherung als Schutz gegen Armut gewährleistet war. Mit der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II, soll diese letzte Schranke auch noch fallen. Die Frage der Höhe des ALG II ist war einzige Punkt, in dem es Unterschiede zwischen den Parteien gab. Das Grundprinzip des „Forderns und Förderns“ wird dabei aber genauso geteilt, wie die Vorstellung von einem autoritären Staat, der als „aktivierender“ seine Bürger in die Pflicht nimmt. In diesen Staatsverständnis unterscheidet sich die Philosophie der „Neuen Mitte“ vom totalen neoliberalen Marktradikalismus. Während dieser alle Vermögenslosen und alle, die ihre Arbeitskraft nicht verkaufen können, ihrem Schicksal überlassen will, zielt der aktivierende Staat auf repressive Inklusion.

Die Philosophie der neuen Mitte beschreibt Martin Dieckmann treffend: „Wir finden hier einen doppelten Bruch vor. Einerseits mit der Vorstellung von sozialen Bürger/innen-Rechten als „unbedingten Ansprüchen“, also mit der historischen Sozialstaats-Idee, wie sie von unten interpretiert wurde. Andererseits wird hier aber auch ein Bruch mit dem neoliberalen Freiheits-Diskurs vollzogen. Der Vorrang von Gesellschaft als „Gemeinschaft“ in Gestalt einer Pflichten-Ethik verleugnet sogar noch die rein liberale Dimension von Freiheit (...) Geschickt wird an die Kritik sozialer Ausgrenzung angeknüpft, aber es handelt sich hier um eine Ideologie repressiver Einschließung. Die klar ausgesprochene Politik des Arbeitszwangs hat dabei wahrscheinlich erst in zweiter oder dritter Linie eine unmittelbar ökonomische Bedeutung. Zentral ist dagegen die weit über die unmittelbare ökonomische Anwendung hinaus gehende ideologische Aufladung „der Arbeit“ als Pflicht zur Pflicht. (...) Die Einschließung befriedigt den Ruf nach Solidarität, ihr repressiver Charakter bestätigt wiederum das Abgrenzungsbedürfnis der real oder nur imaginär Privilegierten innerhalb der Hierarchie von Anerkennung und Elend. Jede Vorstellung von sozialen Rechten als „unbedingten Ansprüchen“ wird bereits im Ansatz unterbunden. Die Frage Viviane Forresters (in „Terror der Ökonomie“), ob man sich denn sein Recht zu leben erst verdienen müsse, wird in der „Radikalen Mitte“ auf neue Weise zu einer rhetorischen Frage. Es gibt nur eine einzige Antwort - ein Ja. Die neue Sozialdemokratie tritt zwar in neuer Gestalt auf die Bühne, freilich in Kostümen und mit Requisiten, die man schon aus früheren Inszenierungen kennt: als Sozialdemokratie, Konservatismus und Liberalismus in neuer Zusammensetzung. Unter der Hand ergibt sich daraus ein Gesamtbild, das aus allen diesen historischen Traditionen die reaktionärsten Tendenzen zusammenführt.”

Teacher, Preacher, Cop and Friend

Fordern und Fördern beinhaltet einen neuen sozialpädagogischen Ansatz. Er löst das Prinzip der „Hilfe zur Selbsthilfe“ ab. Diese war an emanzipativen Vorstellungen aus der 68er Bewegung gekoppelt. Obwohl man auch nicht die repressiven Momente und eine gewisse Bevormundung durch die Umsetzung in der sozialbürokratischen Verwaltung verschweigen sollte, war der Ansatz doch auf ein bestimmtes Maß an Selbstbestimmung ausgerichtet. Er zielte auf Ermächtigung von Menschen ab, die lernen sollten, ihre eigenen Bedürfnisse zu artikulieren. Die Zielgruppe bildeten daher diejenigen, die mit ihrem Leben unzufrieden waren, und einen Rat benötigten, wie sie ihre Lebenssituation verbessern können. Als Ausgangspunkt galt daher herauszufinden, was sie selber als Problem sehen, und ihnen Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Der Sozialpädagoge verstand sich als professioneller Berater, der seine Hilfe nicht aufdrängt, sondern denjenigen, die sie brauchen, anbietet. Ob er den Rat annahm, konnte der Hilfebedürftige selber entscheiden. Der Ratgebende sollte ihn durch seine Kompetenz überzeugen, dass dieser zur Befriedigung seiner Bedürfnisse sinnvoll ist. Dabei musste er plausibel machen, wieso durch Befolgung des Rates eine Verbesserung der Situation im Sinne des Hilfebedürftigen zu erwarten ist. Dieser Überzeugung durfte nicht durch Androhung von Sanktionen des Beratenden nachgeholfen werden.

Im aktivierenden Staat gilt nun aber das Prinzip der „fordernden Beratung“. Der Ratsuchende wird zum Beratungsgespräch gezwungen. Das geht allerdings nur, wenn er die beratende Stelle aufsuchen muss, weil er von ihr abhängig ist. Das ist bei Menschen, die Arbeitslosen- und Sozialhilfe beziehen, der Fall. Ob ihnen die finanziellen Hilfen ausgezahlt werden, hängt nun nach dem neuen Gesetz nicht mehr wie früher vorwiegend von rechtlichen Ansprüchen aus einer früheren Tätigkeit (Arbeitslosenhilfe) oder vom Vermögen (Sozialhilfe) ab, sondern von der Überprüfung ihrer „Arbeitsmarktnähe”, so die Formulierung in einem Regierungspapier. Die Arbeitslosen treten nach der neuen Logik gegenüber dem Arbeitsamt nicht mehr als anspruchsberechtigte Leistungsempfänger/innen sondern als „Kunden” auf. Als solche sind die Arbeitslosen im Hartz-Konzept tatsächlich bezeichnet worden. Das macht auch durchaus Sinn, da dem Antrag auf Arbeitslosengeld zukünftig eine Überprüfung der „Kreditwürdigkeit” des Antragstellers vorausgeht. Es muß geklärt werden, ob sich die Investition in sein „Humankapital” überhaupt lohnt. Die Bundesanstalt für Arbeit, die sich nicht mehr als öffentliche Behörde sondern als Dienstleister für den Staat, private Haushalte und Unternehmen versteht, die diesen Kunden Personal passgenau liefert, hat die Aufgabe zu überprüfen, ob die Menschen, die sie aufsuchen, angepasst genug sind, und welcher Aufwand betrieben werden muß, um sie fit für den Arbeitsmarkt zu machen. Sie muß dafür sorgen, dass von dem zur Verfügung stehenden Geld möglichst wenig direkt an die Arbeitslosen ausgezahlt und mehr in die Förderung ihrer „Employability“ gesteckt wird. Das Beratungsgespräch soll klären, ob sich der Aufwand lohnt. Vom Ausgang des Beratungsgespräch wird abhängig gemacht, ob der Arbeitslose Geldleistungen weiter beziehen kann oder überhaupt erhält.

Wobei das Beratungsgespräch in Belehrungen besteht, was der Hilfesuchende zu tun und zu lassen hat. Ihm wird ein Eingliederungsvertrag vorgelegt, den er zu unterschreiben hat. Ein Beispiel für den Inhalt eines solchen Vertrages beschreibt Christa Sonnenfeld: „Die konkrete Ausgestaltung des Offenbacher Arbeitsamtes sieht folgendermaßen aus: Es werden fünf Bewerbungen die Woche verlangt, das heißt fünf Vorstellungen bei potentiellen Arbeitgebern, die den Besuch der Erwerbslosen schriftlich bestätigen müssen. Im Vordruck heißt es: ‘X hat sich heute bei uns um eine Arbeitsstelle u. a. auch als Hilfskraft beworben. Das kostenlose Praktikum von 12 Wochen und den Arbeitgeberzuschuss von 50 % für mindestens ein Jahr bei Einstellung hat er angeboten’ - Firmenstempel und Unterschrift”. Der Arbeitslose hat sich den Vorgaben des Beraters zu fügen, ohne deren Sinn zu hinterfragen. Es geht darum, seine Anpassungsbereitschaft zu überprüfen. Diese Überprüfung nehmen die Fallmanager der Arbeitsämter nicht nur selber vor, sondern übertragen sie an die bisherigen sozialpädagogischen Einrichtungen oder neu gegründete Bildungsträger und Zeitarbeitsfirmen. Diese werden zu bloßen Vollzugsorganen der Arbeitsämter. Es spielt keine Rolle, ob es sich um einen Fallmanager beim Arbeitsamt oder in einer Einrichtung handelt. Für beide gilt dasselbe Leitbild: „Teacher, Preacher, Cop and Friend” sollen sie nach Vorschlägen der Bertelsmann Stiftung sein.

Soweit also zu dem, was gemeinhin unter „Profiling” zu verstehen ist. Die Juristin Helga Spindler hat darauf hingewiesen, dass dieser Begriff ursprünglich aus der Kriminalistik stammte. Er passt ganz gut, denn die Personen an denen das Profiling jetzt vollzogen wird, haben sich eines Verbrechens schuldig gemacht. Sie sind arbeitslos geworden. Dies ist Resultat ihres nicht angepassten Verhaltens. Sie haben sich zu sehr an eigenen Ansprüchen an Arbeit orientiert, und damit Mis-Match Probleme (so die Hartz-Kommission) erzeugt, in dem ihr Angebot und das was auf dem Markt nachgefragt wird, nicht zusammen passen. Entweder haben sie zu hohe Gehaltsvorstellungen und erwarten durch Aufnahme einer Arbeit mehr zu verdienen als sie Lohnersatzleistungen beziehen. Das ist ihnen grundlegend auszutreiben. Ihnen ist klar zu machen, dass es gerade umgekehrt ist, dass sie verpflichtet wären Löhne unter dem Sozialhilfesatz zu akzeptieren. Oder sie sind nicht flexibel genug und zentrieren ihren Lebensinhalt nicht um Arbeit, und wollen dort wohnen bleiben, wo sie sozial eingebunden sind, anstatt der Arbeit hinterher zu wandern. Oder sie beanspruchen Tätigkeiten entsprechend ihrer Wünsche, Neigungen, Fähigkeiten oder gar Qualifikation auszuführen und stellen die Frage noch dem Sinn ihres Tuns. Dies gilt es, ihnen grundlegend abzugewöhnen. Fassen wir mit Helga Spindler zusammen, was „Fordern und Fördern” heißt: „Es geht unter der Leitlinie von „Fördern und Fordern” zunächst um den Abbau von Leistungsrechten, insbesondere von kalkulierbaren, einklagbaren Geldleistungsansprüchen zur Existenzsicherung. Darüber hinaus aber geht es ebenso um den Abbau von Abwehr- und Schutzrechten - und zwar nicht nur gegenüber staatlichen Eingriffen, sondern auch vor einer Übervorteilung durch Arbeitgeber. An die Stelle von Rechten treten der Ausbau von rechtlich weitgehend ungeschützten Arbeitsverhältnissen und die sog. neuen Sozialen Dienstleistungsangebote (Assessment, Profiling, Case-Management etc.), die den Einzelnen steuern und überwachen, sobald er Hilfe und materielle Unterstützung benötigt. Die Entwicklung führt weg von Rechten, hin zu nebulösen „Chancen“, weg auch von Selbstachtung, Selbstbestimmung und Emanzipation, hin zu autoritären Fürsorgeangeboten, deren Ausgestaltung man sich durchaus etwas kosten lässt. Die Gelder werden nur umgeschichtet: weg vom Individualanspruch, hin zu den Dienstleister/innen und Kontrolleur/inn/en. Bei einem der Bertelsmannschen Vorzeigeprojekte, der Kommunalen Arbeitsförderungsgesellschaft „KomAG Reutlingen Tübingen“, sollen die Hilfeempfänger/innen bei mangelnder Mitwirkung an der ihnen aufgedrängten Hilfe bereits zum Schadenersatz herangezogen werden können, und vor kurzem erst hat ein Gericht den dortigen Sozialhilfeträger daran gehindert, die den Sozialhilfebezieher/inne/n aufgedrängten Arbeitsmaßnahmen auch noch von ihnen mitfinanzieren zu lassen. Entgegen manchen Befürchtungen wird es in Zukunft voraussichtlich sogar mehr Beschäftigungsmaßnahmen geben als bisher, aber nicht im Sinn von Hilfe und Eingliederung unter Berücksichtigung von Freiwilligkeit, Eignung und Neigung, sondern als Gegenleistung für die staatliche Existenzsicherung, ganz im Sinne einer Workfare-Ideologie, die damit eine neue Form von Ausgrenzung schafft“.

Die Dienstbotengesellschaft

Die Frage; ob etwas sinnvoll ist, entscheidet sich nach Wolfgang Streeck allein auf dem Markt. Was auf diesem nicht nachgefragt wird, ist sinnlos. Über die Sinnhaftigkeit einer Beschäftigung entscheidet daher allein ein potentieller Kunde, der bereit ist Geld auszugeben. Dies haben nicht nur Arbeitslose zu begreifen, sondern auch Politiker. Streeck schreibt: „Ob eine Beitragsentlastung geringerer Einkommen dazu führt, dass noch mehr Hamburger gegessen werden, geht den Arbeitsmarktpolitiker nichts an; über Geschmack sollte er nicht streiten. Wer erst politisch klären will, was ›gesellschaftlich sinnvolle Tätigkeit‹ ist, um dann für diese ›Arbeitsplätze einzurichten‹ der mag es gut meinen. Das ist aber schon das Beste, was man über ihn sagen kann”. Mehr Beschäftigung entsteht, in dem man potentielle Kunden aufspürt, diesen ein attraktives Angebot macht. Und Attraktiv ist das Angebot nur, wenn es in Art, Umfang und Preis den Wünschen der Kunden entspricht. Mehr Beschäftigung entsteht daher durch eine stärkere Orientierung am Kunden. Der deutsche Sozialstaat, sagt Streeck, hat bisher verhindert, dass eine solche Kundenfreundlichkeit entstanden ist. Er beruht auf einer falsch verstandenen Vorstellung von Solidarität: „In unseren nordwesteuropäischen Nachbarländern weiß man längst, dass es zu den Solidaritätspflichten der Gemeinschaft gehört, ihre Mitglieder nicht vor Marktzwängen zu schützen, die sie dazu bewegen könnten, sich noch mal aufzuraffen”.

Dieser als Solidarität missverstandene Schutz schade nicht nur denjenigen, die der irrigen Ansicht sind, sie hätten ein Recht, nicht zu arbeiten, sondern lässt allgemein Arbeitlose verkennen, dass schließlich „jeder Arbeitsplatz besser als keiner” ist. Er verhindert auch, dass „willige und flexible Helfer (Streeck) am Arbeitsmarkt auftauchen. Die zu geringe Beschäftigung drücke sich aus in einer „Dienstbotenlücke”. Diese kommt laut Streeck daher, dass diejenigen, die im industriellen Sektor nicht mehr unterkommen können, vom Staat durch passive Leistungen ausgehalten werden, anstatt dass Anstrengungen unternommen werden, sie hinsichtlich des Arbeitsmarktes zu aktivieren. Potentielle Kunden finden deswegen kein attraktives Angebot am Markt vor. Doch wer könnten solche potentiellen Kunden sein, wenn es Industrieunternehmen nicht sind? Streeck geht davon aus, dass in der Industrie nur noch technisch hochqualifizierte Menschen unterkommen können, die fast ausschließlich am Weltmarkt orientierten Unternehmen flexibel und zeitlich unbegrenzt zur Verfügung stehen, die sich aber auch ständig weiterbilden müssen. Diese Weiterbildung hat in der auftragsfreien Zeit stattzufinden und ist zum größten Teil selber zu bezahlen. Sie ist als Investition ins Humankapital zu verstehen, die der Unternehmer der eigenen Arbeitskraft tätigt. Damit haben wir eine kleine Schicht relativ gut verdienender Arbeitskraftunternehmer, die wenig Zeit haben. Ihr Einkommen müssen sie allerdings verstärkt zum Erhalt ihrer Beschäftigungsfähigkeit einsetzen. Ebenso geht es für die private Vorsorge gegen eventuelle Risiken drauf. Der Staat kann die Bereitstellung von Versicherungen und Bildungsangeboten nur auf einem abgespeckten Niveau bieten. Da die Industrieunternehmen einerseits auf den Binnenmarkt kaum Rücksicht nehmen müssen, anderseits vielfältigste Standorte für sie in Frage kommen, können sie nur gehalten werden, wenn die Standortbedingungen attraktiv sind. Die Attraktivität ist in diesem Bereich weniger eine Frage der Löhne, die sie zu zahlen haben, sondern ob sie wenig Steuern zahlen müssen und trotzdem eine gutausgebaute Infrastruktur zur Verfügung gestellt wird. Den Staat, der dies kann, haben ausschließlich die neuen Arbeitskraftunternehmer zu finanzieren. Bei dieser Finanzierung gilt es, sie zu entlasten. Sie müssen weniger Sozialabgaben bezahlen können und gleichzeitig mehr dafür bekommen. Durch Kürzung und Umschichtung der Mittel, die bisher an Arbeitslose ausgezahlt wurden, sollen die zeitlich total eingespannten Arbeitskräfte für ihre Sozialabgaben ein Heer von kundenfreundlich hergerichteten und in Personalserviceagenturen der Arbeitsämter leicht abzurufenden Servicekräften bekommen. Diese könnten ihnen im privaten Haushalt helfen, ihnen ihr Mittagessen bereit stellen oder ihnen in zu Wellnesscentern umgebauten Krankenhäusern die Zeitung ans Bett bringen und zu ihrer Erholung beitragen. Explizit stellt Streeck fest, dass hier insbesondere für Frauen Beschäftigungsmöglichkeiten liegen. Hier dürfte dann auch ein Schlüssel für den öffentlichen Anklang des „Forderns und Förderns” liegen.

Sowohl der Paradigmenwechsel in den sozialpädagogischen Konzepten und der Stärkung des autoritären Teacher, Preacher, Cop and Friend, wie auch die Vorstellung vom allseits verfügbaren Dienstbotenpersonal verweisen auf den keineswegs geschlechtsunspezifischen Charakter der derzeitigen Visionen. „Die Niedriglohnstrategie verdankt ihre Attraktivität aber über ihre vermeintlich ökonomische Plausibilität hinaus den gesellschaftlichen Leitbildern, die mit ihr transportiert werden. In den Visionen der wissensbasierten hochproduktiven Kernsektoren, die sich dank ihres hohen Einkommens und knapper Zeitressourcen eines Heeres von flinken Servicekräften und flexiblen Helfern bedienen, werden mit Verlockungen einer Domestikenökonomie nicht zuletzt auch Geschlechterstereotypen reproduziert” (Brigitte Stolz-Willig/Franziska Wietholt).

Literatur

AK-Erwerbslose im DGB Marburg: Sinnlose Beschäftigungsmaßnahmen und Geschäfte mit Erwerbslosigkeit. Darstellung, Dokumentation und Kritik Marburger Zustände; Marburg 2001.

Martin Dieckmann: Auf dem „Dritten Weg“ ins 21. Jahrhundert? Überlegungen zur neuen Sozialdemokratie; in: Analyse und Kritik 431 (1999).

Rainer Fretschner / Josef Hilbert / Sybille Stobe-Blossey: Der aktivierende Staat und seine Implikationen für die soziale Arbeit; in: Heinz-Jürgen Dahme / Hans-Uwe Otto / Achim Trube / Norbert Wohlfahrt (Hg.): Soziale Arbeit für den aktivierenden Staat; Opladen 2003.

Helga Spindler: „Überfordern und überwachen“. Der restriktive Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik; in: Sozialextra 8/9 (2003)

Brigitte Stoltz-Willig / Franziska Wietholt: Auf konfliktreichen Wegen zu neuer Arbeit. Gegen naive Vorschläge und billigen Konsens; in: Nehls/Arlt (Hg): Bündnis für Arbeit. Konstruktion, Kritik, Karriere; Wiesbaden 1999.

Wolfgang Streeck / Rolf G. Heinze: Runderneuerung des deutschen Modells. Aufbruch für mehr Jobs; in: Nehls/Arlt (Hg): Bündnis für Arbeit. Konstruktion, Kritik, Karriere; Wiesbaden 1999.

Wolfgang Völker: „Fordernde Beratung“. Eine Aufforderung zum Widerspruch an die Adresse Sozialer Arbeit, Manuskript, im Internet: http://www.lichter-der-grossstadt.de/html-Dokumente/gegen%20Aktivierung/Wolfgang-fordern.htm, Stand 01.12.2004

Frank Rentschler


(1)  Die Dimension dieser Verdrängung aus Statistik und Leistungsbezug allein im Jahr 2003 ist enorm: „Bis zu 1,3 Millionen Erwerbslose, so rechnet die ‚Koordinierungsstelle gewerk-schaftlicher Arbeitslosengruppen’ vor, sind seit Jahresbeginn aus der Arbeitsmarkt-Statistik verschwunden. (...) Rund 826 000 Erwerbslose fielen nach den Angaben der Koordinierungsstelle aus der Statistik, weil sie ihr Arbeitsgesuch nicht – wie vorgeschrieben – nach drei Monaten erneuerten. Noch einmal 476 000 würden nicht mehr als erwerbslos registriert, weil sie nicht aktiv eine neue Stelle suchten oder dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stünden. (...) Die härtere Gangart der Arbeitsämter hat durchaus Folgen für die Statistik. So stieg die Zahl der ‚wegen Ablehnung von Arbeits- und Integrationsangeboten’ verhängten Sperrzeiten in den ersten neun Monaten dieses Jahres um 117,4 Prozent“ (Nürnberger Nachrichten, 4.12.2003).

Sozialabbau und der neoliberale Marsch in den Abgrund

 

Die offizielle Begründung für den Sozialabbau lautet, dass die Löhne bzw. die Lohnnebenkosten in der BRD zu hoch seien, und sie nicht mehr konkurrenzfähig gegenüber dem Ausland sei. Dieses Argument ist allerdings wenig plausibel, denn kein anderes Land exportiert soviel Waren wie die Bundesrepublik. Daneben allerdings heißt es, dass die Löhne und die Gewinnsteuern gesenkt werden müssen, weil die Firmen sonst ins Ausland, insbesondere nach Osteuropa und nach China abwandern werden.

Dort sind die Arbeitskosten um ein vielfaches niedriger als in der Bundesrepublik und Lohnerhöhungen sind nicht zu erwarten. Solche Verlagerungen finden auch täglich statt und Gewerkschaften werden erfolgreich mit Drohungen einer Betriebsverlagerung erpresst, sich auf Lohnsenkungen und Arbeitszeitverlängerungen einzulassen. Unternehmensberatungen erleichtern es auch Mittelständlern, ihre Betriebe zu verlagern.

Diese Argumente sind auf den ersten Blick nicht zu widerlegen. Die Steuerungsmöglichkeiten von Staaten sind in den letzten Jahren zurückgegangen und viele wirtschaftspolitische Kompetenzen wurden an internationale Organisationen abgegeben (EU, WTO, IWF etc.), die eine knallharte neoliberale Politik betreiben. Wenn Sozialabbau und Lohnverzicht der abhängig Beschäftigten nicht die von den Neoliberalen versprochenen Ergebnisse zeitigen, schließen sie daraus, dass die getroffenen Maßnahmen noch nicht radikal genug gewesen sind. Auch der Kaufkraftverlust zehrt häufig die durch Lohnkürzungen kurzfristig gesteigerten Gewinne wieder auf. Diese Entwicklung bewirkt, dass soziale Standards und Löhne weltweit immer niedriger werden und der größte Teil der Menschheit verarmt. Sie bietet für die überwältigende Mehrheit keine vernünftige Perspektive und führt letztendlich in den Abgrund.

Das ist umso paradoxer, weil die materiellen Mittel vorhanden sind, um allen Menschen ein würdiges Leben zu bieten und das bei weitaus weniger Arbeit, als die Beschäftigten heute leisten müssen. Für diese verhängnisvolle Entwicklung ist die ungehemmte ökonomische Globalisierung verantwortlich, die durch folgende Faktoren beschrieben werden kann:

1. Von den Eurodollar-Märkten zum globalen Finanzmarkt

Nach dem zweiten Weltkrieg exportierten die USA massiv Dollars, um sie etwa in Europa oder Japan anzulegen. Die Gewinne aus diesen Geschäften wurden nicht mehr vollständig zurückgeführt, sondern bei europäischen Banken kurzfristig angelegt. Es entwickelte sich der sog. Eurodollarmarkt, der nicht mehr den inneramerikanischen Regulierungsmaßnahmen wie Reserveverpflichtungen und Zinssatzrestriktionen unterworfen war. Damit konnten diese Eurogeld-Banken effizienter und konkurrenzfähiger als ihre inländischen Wettbewerber operieren.

In den Jahren zwischen 1973 und 1979 stieg der Ölpreis um das Zweieinhalbfache. Diese Preissteigerungen wirkten wie Schock auf die Ökonomien der OECD-Länder, denn infolge der Inelastizität der Nachfrage nach Erdöl wurde ein Teil der Kaufkraft, die bisher auf industrielle Güter gerichtet war, zu den Rohölproduzenten umgeleitet. Diese häuften jedoch zunächst massive Zahlungsbilanzüberschüsse an und die OPEC-Länder legten diese Überschüsse hauptsächlich auf den Eurodollar-Märkten an, deren Volumen weiter zunahm.

In den 80er Jahren hoben insbesondere die Regierungen Thatcher und Reagan und etwas später die anderen G7-Länder alle Restriktionen für die Finanzmärkte auf und sie verschmolzen zu einem einzigen globalen Finanzmarkt. Diese Entwicklung wurde durch die Verbreitung des elektronischen Geldes zusätzlich verstärkt. Die Zentralbanken waren immer weniger in der Lage, koordinierten Angriffen auf einzelne Währungen von Seiten der Devisenmärkte standzuhalten. Hierdurch wurden häufig Krisen in der Realwirtschaft ausgelöst, wie z.B. 1997 in Südostasien.

Das Finanzkapital kann auf diese Weise de facto die Wirtschaftspolitik aller Länder bestimmen. Grundlage dieser ernormen Macht der Finanzmärkte ist die Konzentration und Zentralisation von gigantischen liquiden Mitteln in den Händen von Finanzunternehmen und Investmentfonds. Hintergrund dieses Systems ist die private, kapitalgedeckte Altersvorsorge, die nach dem zweiten Weltkrieg in den angelsächsischen Ländern und in Japan eingeführt wurde.

Die sekundären Kapitalmärkte ermöglichen finanziellen Investoren Liquidität im eigentlichen Sinne und sie können in kürzestmöglicher Zeit von einigen Sekunden aus dem Markt aussteigen.

Diese Kombination ermöglichte es den Finanzinvestoren zunehmend seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre, steuernd in Unternehmensentscheidungen einzugreifen und über Investitionsentscheidungen sowie die Aufteilung der Einkommen zu bestimmen. Durch diese Investoren werden die Unternehmen angehalten, um jeden Preis kurzfristige Gewinne zu machen und die Kosten (sprich Löhne) rabiat zu senken. Dieser Sachverhalt wird mit dem Stichwort Shareholder Value beschrieben.

2. Verschuldung der dritten Welt und des Ostblocks

In den 70er Jahren kam es zu einer immer stärker werdenden Verschuldung der Entwicklungsländer und des Ostblocks bei internationalen Banken. Diese Verschuldung erfolgte immer häufiger zu dem Zweck, die Ölrechnung, sowie alte Zinsen und Tilgungen zahlen zu können.

Zunächst war dies noch relativ problemlos möglich, denn an den internationalen Finanzmärkten herrschte, u.a. wegen des massiven Zustroms der OPEC-Dollars, ein Überangebot und die Kreditzinsen waren sehr niedrig. Als dann die Regierung Reagan 1980 eine restriktive Kreditpolitik betrieb und die Zinsen weltweit stiegen, brach die Schuldenkrise der Länder der Entwicklungsländer offen aus. Sie konnten in vielen Fällen die aufgenommenen Kredite nicht zurückzahlen. Hierdurch bekam der Internationale Währungsfonds Gelegenheit, seine immer stärker radikalisierte neoliberale Agenda bei den Entwicklungsländern als Bedingung für Überbrückungskredite, den berüchtigten Strukturanpassungsprogrammen durchzusetzen. Das Gewicht der Entwicklungsländer nahm rapide ab, und die „realsozialistischen“ Länder des Ostblocks brachen 1989 zusammen.

3. Die neue internationale Arbeitsteilung

Hierdurch änderte sich auch das vorherrschende Entwicklungsmodell: In den Jahren zwischen 1945 und 1980 versuchten viele Länder des Südens eine Strategie der importsubstituierenden Entwicklung. Durch hohe Zollbarrieren wurde der Binnenmarkt von der Weltmarktkonkurrenz abgeschottet. Dies ermöglichte es nationalen Unternehmern Produkte herzustellen, die bisher importiert wurden. Zugleich wurde damit eine große Anzahl von Arbeitsplätzen geschaffen und die Binnennachfrage angeheizt. Stand nicht genug einheimisches Kapital zur Verfügung, betrieb der Staat die Industrialisierung direkt.

Diese Strategie konnte nach den Strukturanpassungsprogrammen nicht mehr aufrecht erhalten werden. Die Öffnung des Binnenmarktes bewirkte, dass die nationale Industrie zugrunde ging, denn sie konnte in den seltensten Fällen mit den weltweit produktivste Firmen konkurrieren, die aufgrund ihrer hohen Produktivität billiger verkaufen konnten. Statt dessen mussten sich die Länder jetzt direkt auf den Weltmarkt ausrichten. Es sollten Direktinvestitionen angelockt werden. Der wichtigste Kostenvorteil waren und sind aber die geringen Arbeitskosten. Diese Strategien waren in einigen Ländern durchaus erfolgreich (z.B. in Ungarn, Polen, Mexiko, Philippinen, Vietnam, China). Letztendlich führen sie aber zu einer weltweiten Abwärtsspirale der Löhne und ihrer Angleichung auf niedrigstem Niveau. Weltweit gelten aber mindestens 1 Milliarde Menschen als arbeitslos oder unterbeschäftigt. Die perfekte Mobilität des Kapitals bewirkt, dass produktive Investitionen vor allem in Ländern mit Niedriglohn getätigt werden. Aufgrund der wachsenden Automatisierung schrumpft der weltweite Bedarf an einfacher manueller Arbeit. Unter diesen Umständen kann der Preis der Ware Arbeitskraft tief unter ihren Wert fallen.

Nach Schätzungen gelten in China mehrer 100 Millionen Menschen als unterbeschäftigt. Sie allein könnten den weltweiten Bedarf an Arbeitskräften für einfache Tätigkeiten decken. Unter diesen Umständen dürfte sich der Preis der Ware Arbeitskraft auf dem freien Weltmarkt in Richtung auf die 37 Dollar pro Monat bewegen, die Frauen in der elektronischen Industrie von Shenzen / China verdienen. Überhaupt sind China bereits heute die Löhne weltweit am niedrigsten. In den freien Produktionszonen der Philippinen, Mexikos und Osteuropas werden die Löhne ständig gesenkt, mit Verweis auf die chinesische Konkurrenz, wo die Arbeit noch billiger zu haben ist. Das Verbot von freien Gewerkschaften und Streiks und die große industrielle Reservearmee im „kommunistischen“ China verhindern, dass dort die Löhne in absehbarer Zeit ansteigen werden.

Die westeuropäischen Länder sind ebenfalls von dieser Entwicklung betroffen. Hartz IV dient letztendlich dem Zweck, die Löhne für einfache, manuelle Tätigkeiten nachhaltig zu senken. Allerdings können diese Volkswirtschaften auch nicht allein von geistiger Tätigkeit leben. Das Fallen der Löhne für einfache manuelle Tätigkeit bewirkt zudem, dass das gesamte Lohngefüge ins Rutschen kommt. Letztendlich ist dies eine Spirale nach unten, der weltweit zu immer größerer Verelendung und dem Abbau staatlicher Leistungen führen wird. Der durch den Kaufkraftverlust zunehmende Druck auf die Profite führt nur dazu, dass die Unternehmen diese Strategien radikalisieren und immer schneller ihre Produktion in Billiglohnländer verlagern.

Vielen Entwicklungsländern gelang es aber nicht, überhaupt Investoren anzuziehen und sie wurden de facto vollständig vom Weltmarkt abgekoppelt. Dieses Schicksal traf die meisten Länder Afrikas, Lateinamerikas und große Gebiete Asiens. Diese Entwicklung führt nach den Worten von Michel Husson zu gigantischen Ausschluss- und Verdrängungswirkungen. Alle Arbeit, die nicht auf Anhieb den durch den Weltmarkt vereinheitlichten höchsten Gewinnnormen entspricht, wird stillgelegt.

4. Der Aufstieg transnationaler Konzerne

Zunehmend entstehen transnationale Konzerne und globale Oligopole, die die vorher bestehenden nationalen Oligopole ablösen. Oft besteht das Ziel von Akquisitionen oder Fusionen auch darin, einen Teil des Marktes an sich zu reißen, während die Produktion nicht erweitert wird. In einer durch Zölle unterteilten Welt war es für die Großunternehmen rational, an möglichst vielen Standorten präsent zu sein. Heute dagegen bevorzugen die global operierenden Konzerne andere Strategien wie Exporte, Ausgliederung der Produktion an Subunternehmer, Versorgung mit Vorprodukten bei anderen Firmen oder Bildung von Firmenallianzen.

Bereits in den 80er Jahren begannen Unternehmen in großem Stil, zahlreiche Tätigkeiten auszugliedern und an externe Dienstleister zu übertragen (Outsourcing). Zunächst einmal betraf das Produktionszweige, die nicht zum Kerngeschäft der jeweiligen Firma gehören, wie z.B. Wartung und Reparatur, Reinigung, EDV, Schulungen, telefonische Kundenbetreuung, Lagerhaltung, Steuerberatung, Buchhaltung, Sicherheit, Gebäude-Management und Kantinen. Inzwischen übertragen sie zunehmend auch die eigentliche Produktion an spezialisierte Firmen.

Vorreiter einer solchen Entwicklung ist die Textil- und die Computerindustrie. Vor 1990 besaß z.B. die überwältigende Mehrheit der Computerfirmen wie HP oder IBM noch eigene Fabriken und die Arbeiter/innen waren direkt bei den entsprechenden Firmen angestellt. Viele OEMs (Original Equipment Manufacturers) haben inzwischen den größten Teil ihrer Produktionstätigkeiten outgesourced. Hierdurch ließen sich die notwendigen Kapitalinvestitionen in Produktionsstätten erheblich reduzieren. Damit sinkt auch das Verlustrisiko, wenn die betreffende Fabrik aufhört, profitabel zu sein. Zugleich sind die OEMs nicht mehr an Eigentum von Fabriken und an permanente Arbeitsverträge gebunden. Sie können flexibler auf geänderte Marktsituationen reagieren. Wenn der Bedarf wächst, brauchen sie nur neue Aufträge zu vergeben, wenn der Bedarf sinkt, müssen sie den entsprechenden Vertrag nicht mehr verlängern.

Das Risiko bleibt bei den Kontraktfertigern wie Solectron, Flextronics, Samina-SCI oder Celestica hängen. Diese Firmen besitzen selbst noch einige große und weitgehend automatisiert arbeitende Fabriken in den Industrieländern. In den letzten Jahren sind sie aber immer stärker dazu übergegangen, die Aufträge an Unterkontraktoren in Entwicklungsländern, v.a. in Mexiko, den Philippinen und China zu vergeben. Die Arbeitsbedingungen der dort hauptsächlich eingesetzten Frauen sind sehr schlecht.

Die großen Markenfirmen konzentrieren sich mehr und mehr auf ihre Kernkompetenzen: Forschung und Entwicklung, Marketing, Verkauf und Markenmanagement. Dennoch können sie einen großen Teil des bei ihren Kontraktfertigern anfallenden Mehrwerts abschöpfen.

5. Enteignungsökonomie

Firmen werden von ihren Shareholdern gezwungen, kurzfristig möglichst hohe Gewinne zu machen. Diese lassen sich aber aufgrund der weltweit zurückgehenden Löhne und schrumpfenden Märkte immer weniger durch die eigentliche Produktion von Gütern und Dienstleistungen realisieren, sondern durch aggressive Prozesse der gewaltsamen Enteignung. Dabei handelt es sich um ein ganzes Bündel von Entwicklungen:

  • Durch eine Verschärfung des geistigen Eigentums (Patente, Urheberrechte etc.) werden Bäuer/innen, Konsument/innen und kleine Firmen gezwungen, Gebühren an die Großkonzerne für Nutzungsweisen zu zahlen, die bisher frei waren. So ist jetzt verboten, selbstgeerntetes Saatgut wiederauszusähen, wenn es mit Patenten oder Sortenschutzrechten belegt ist. Die Bäuer/innen müssen jetzt hohe Nachbaugebühren an die Patentinhaber, meistens große Biotechnologiekonzerne, zahlen.
  • Durch Privatisierung von öffentlichen Diensten und Infrastrukturen (Wasser, Transport, Gesundheitswesen, Bildungswesen etc.) können ebenfalls extrem hohe Gewinne gemacht werden. Viele Bereiche, die sich nicht gewinnbringend vermarkten lassen, werden anschließend still gelegt, die restlichen werden auf die Bedürfnisse einer kleinen, zahlungskräftigen Minderheit zugeschnitten. Hierdurch werden die Lebens- und Reproduktionsbedingungen großer Bevölkerungsgruppen bedroht.
  • Klassische Formen der ursprünglichen Akkumulation sind in Ländern wie China oder Russland im Gefolge ihres Übergangs zur Marktwirtschaft zu beobachten. Darunter versteht man die Umwandlung von unterschiedlichen Eigentumsformen in absolutes, bürgerliches Privateigentum, meistens verbunden mit einer Vertreibung der ursprünglichen Besitzer/innen.
  • Unmittelbarer Raub gewinnt im Zusammenhang mit Angriffskriegen, wie dem Irakkrieg wieder an Bedeutung.
  • Die großen Markenfirmen können aufgrund ihrer Marktmacht einen bedeutenden Teil des bei ihren Kontrakfertigern erzeugten Mehrwerts abschöpfen.

Viele dieser neuen Akkumulationsformen bedeuten eine Enteignung der bisherigen Nutzer/innen. Bisher freie oder zu geringen Gebühren zugängliche Nutzungsformen und Dienstleistungen sind jetzt nur noch gegen hohe Geldzahlungen erhältlich. Zugleich werden aber die Löhne immer weiter gesenkt. Damit wird langfristig die große Mehrheit der Menschen von der Nutzung dieser Güter wie Wasser, Elektrizität, Personentransport, Wissen, Saatgut etc. ausgeschlossen.

Diese Enteignungsprozesse lassen sich nur mit Hilfe der Staatsmacht durchsetzen. Da sie den Interessen der meisten Menschen widersprechen, kommt es zu einem schleichenden Demokratieabbau und es entsteht langsam ein autoritärer Herrschaftsstaat.

6. Die Macht der Medien und die Kommerzialisierung von Emotionen

Inzwischen wird die menschliche Kultur zu einem großen Teil von neun gigantischen Medienkonzernen kontrolliert, denen ein bedeutender Anteil der weltweit produzierten Filme, Musik, Fernsehsendungen, Bücher, Zeitungen und Zeitschriften gehört. Bei diesen Konzernen handelt es sich um AOL Time Warner, Sony, die News Corp., Disney, Bertelsmann, General Electric, Vivendi Universal, Viacom und TCI. Diese Konzerne gehören zu den stärksten Profiteuren der neoliberalen Globalisierung tun alles, was in ihrer Macht steht, um ein neoliberales Weltbild in den Köpfen der Menschen zu verankern. Sie verhalten sich gegenüber bestimmten Politikern indifferent, wenn diese nur die neoliberale Globalisierung unterstützen. Auch in den fiktionalen Produkten wie Filmen wird die Konsumgesellschaft, der Markt oder die soziale Ungleichheit als positiv oder alternativlos dargestellt. Dagegen wird alles verurteilt oder ignoriert, was nicht in dieses Raster passt: Soziale Bewegungen, kritische, eigenständige Aktivitäten der Menschen sowie Politiker oder Regierungen, die sich nicht völlig den Weltmärkten unterwerfen wollen.

Mittels der neuen digitalen Kontrolltechnologien wie Digital Rights Management können nicht nur unautorisierte Kopien wirkungsvoll verhindert werden, sondern es wird in Zukunft möglich sein, die Menschen noch viel stärker als heute zu zwingen, genau diejenigen Inhalte zu konsumieren, die die Unterhaltungsindustrie für sie vorgesehen hat.

Nach den Worten des Soziologen Jeremy Rifkin wird sie in Zukunft als Gatekeeper für die digitalen Welten des Cyberspace fungieren und alle kritischen Inhalte ausfiltern. Zudem kann dann im einzelnen festgestellt werden, was die Menschen gelesen oder welche Filme sie betrachtet haben. Diese Daten stehen dann selbstverständlich auch den Staaten für Rasterfahndungen zur Verfügung. Kritische oder nicht mehr erlaubte Inhalte können problemlos aus der Ferne auf dem eigenen PC unzugänglich gemacht werden. Unter diesen Umständen können Alternativen zur herrschenden Wirtschaftspolitik noch nicht einmal gedacht werden. Selbst eine starke Verelendung der Bevölkerung muss unter diesen Umständen nicht zu einer kritischen Einstellung gegenüber dem Neoliberalismus führen.

Rifkin befürchtet, dass viele Menschen in einer durchkommerzialisierten zukünftigen Welt nicht mehr in der Lage sein werden, spontan Sympathie und Zuneigung zu anderen zu entwickeln. Dies hat mehrere Ursachen:

  • Aufgrund der zunehmenden Armut kommt es zu einem Zerfall von Familien und Partnerschaften.
  • Auch sehr lange Arbeitszeiten bzw. die verlangte extreme Flexibilität der Beschäftigten mit dauernden Ortswechseln erschweren das Eingehen von langfristigen Beziehungen.
  • Wegen der sich verschlechternden Lebensbedingungen kommt es auch zu einem Zerfall von Vereinen, sozialen Bewegungen oder sonstigen Zusammenschlüssen, die nichts mit der kapitalistischen Wertschöpfung zu tun haben, die aber für das Zusammenleben der Menschen wichtig sind.

Gesellschaftliches Leben so wie wir es kennen, dürfte nach einer groben Schätzung in Zukunft das Privileg der reichsten 20% der Weltbevölkerung werden. Sie werden abgeschotteten Gates Communities leben und auch Räume von kultureller Bedeutung werden zunehmend durch Wachleute, Pförtner und Eintrittsgelder abgeriegelt.

Eine schmale Mittelklasse von vielleicht weiteren 20% hat nicht mehr die Zeit und die materiellen Möglichkeiten, ein solches gesellschaftliches Leben zu führen. Sie kann sich aber emotionelle Zuwendung von Zeit zu Zeit kaufen. Diese kann in einem Begleitservice, Hostessen oder unmittelbarer Prostitution bestehen. In Japan haben Dienstleistungen dieser Art bereits ein beträchtliches Ausmaß erreicht. Viele Schülerinnen der Sekundarstufe beteiligen sich an Enjo Kosai, also bezahlten Dates. Kunden sind überwiegend ältere Geschäftsleute. Inzwischen werden ähnliche Verhaltensweisen auch in den USA beobachtet.

Hier könnte sich ein weiterer bedeutender Markt für die Unterhaltungskonzerne eröffnen. Diejenigen Anbieter wären im Vorteil, die ein Paket aus Telekommunikationsdienstleistungen, Medieninhalten, Reisen und menschlicher Zuwendung schnüren. Die Synergien wären enorm. Eine weitere riesige Fusionswelle von Konzernen der Unterhaltungs-, Telekommunikations-, und Touristikindustrie ist deshalb wahrscheinlich. Weil sie es nie gelernt haben, wird diese Gruppe von Menschen völlig unfähig sein, spontan Zuneigung zu anderen zu entwickeln. Der Triumph des Neoliberalismus wäre vollkommen: Die Menschen wissen weder etwas von Alternativen, noch können sie sich solche vorstellen oder haben die Fähigkeit, sich autonom zu organisieren. Diese schöne neue Welt dürfte starke Ähnlichkeit mit den düsteren Visionen von Orwell, Huxley und Boye haben.

7. Schlussfolgerungen

Eine Alternative zu dieser besorgniserregenden Entwicklung könnte nur noch dann durchgesetzt werden, wenn sie von einer starken sozialen Bewegung gefordert wird. Damit dies erreicht werden kann, müssten sich noch viel mehr Menschen als bisher in sozialen Bewegungen wie attac organisieren. Auch müsste es stärker ausgearbeitete Alternativen zum neoliberalen Wahnsinn geben. Einen ersten Ansatz hierzu bietet das Papier zu einer alternativen Weltwirtschaftsordnung, das innerhalb von attac über zwei Jahre lang diskutiert und auf dem Ratschlag in Hamburg im November 2004 verabschiedet wurde. Es kann hier heruntergeladen werden: <link awwo diskussionspapier awwo-041031b.pdf.>www.attac.de/awwo/diskussionspapier/041031/awwo-041031b.pdf. Ab Januar 2005 wird es auch als gedruckte Broschüre bei den lokalen Attacgruppen erhältlich sein.

8. Literatur:

Anmerkung: Im Interesse der Lesbarkeit wurde auf Literaturnachweise verzichtet. Es wurden hauptsächlich folgende Quellen benutzt.

Altvater / Hübner / Stanger: Alternative Wirtschaftspolitik jenseits des Keynesianismus, Opladen 1983

Bödeker / Moldenhauer / Moritz / Rubbel: Attac Basistext Wissensallmende, Hamburg 2005 (erscheint im März 2005)

CAFOD: Clean up your Computer. Working conditions in the electronics sector. A CAFOD report, 26.01.2004, im Internet: http://www.cafod.org.uk/var/storage/original/application/phpYyhizc.pdf, Stand 01.12.2004

Robert Kurz: Weltordnungskrieg, Bad Honnef 2004

Ernest Mandel: Die langen Wellen im Kapitalismus, Frankfurt am Main 1987

Jeremy Rifkin: Access, Frankfurt am Main 2000

Christian Zeller (Hrsg.): Die globale Enteignungsökonomie, Münster 2004

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