Menü

Selbstentmündigung durch Konsum

Das jüngste Samsung bringt nahezu Vollausstattung mit, wie beim iPhone 4S fehlt nur das superschnelle Datenprotokoll LTE. Sonst ist alles dabei, nicht nur Bluetooth 4.0 und NFC, sondern auch diverse Protokolle zum multimedialen Datenaustausch (WiFi Direct, DLNA, All Share Play) sowie ein üppiger zweijähriger Gratisspeicherplatz von 50 Gigabyte für Daten in der Dropbox-Cloud. In diesen Details ist das Samsung dem iPhone überlegen. Auch hinsichtlich der Rechenleistung wird aus dem Vollen geschöpft: Vier Kerne der hauseigenen Exynos-CPU legen in Benchmarks ein spektakuläres Tempo vor. Die einzelnen Kerne lassen sich separat zwischen 200 Megahertz und 1,4 Gigahertz takten, ein weiterer Sparkern wie beim Tegra-3-System (etwa des HTC One X) ist nicht erforderlich.


So etwas kann man heute in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung lesen. Und so sind sie, die »Smartphones«. Sie können die erstaunlichsten Dinge und nötigen daher ihren Nutzerinnen und Nutzern eine intensive Auseinandersetzung mit ihnen ab, beim Kauf und im Betrieb. Für die immer kürzere Taktung der Neuerscheinungen in diesem Marktsegment sind immer neue Funktionen und »Leistungen« erforderlich - das »neue« Handy muss sich ja durch irgendeinen Mehrwert vom »alten« unterscheiden. Keine einzige seiner Funktionen hat ein Nutzer je vermisst, als es sie noch nicht gab. Er hat zuvor nicht einmal geahnt, dass ihn möglicherweise die separat zu taktenden Kerne irgendwann einmal interessieren könnten, geschweige denn, dass solche Kerne sein Begehren wecken könnten. Das Mobiltelefon »Samsung Galaxy SIII«, von dem hier die Rede ist, ist im Juni 2012 auf den Markt gekommen; beim Erscheinen dieses Buches wird es mit Sicherheit schon zwei bis drei weitere »GaIaxy«-Generationen gegeben haben.

Das in Kürze schon veraltet sein werdende »SIII« kann Gesichter erkennen, was die »FAZ« gut findet: »Die Gesichtserkennung ist nach erstmaliger Identifikation einer Person in der Lage, sie auch auf weiteren Fotos zu markieren. Und dann kann man den Schnappschuss mit einem Fingertipp sogleich an seine Freunde schicken.« Die Frage, warum es besser ist, wenn das Handy Onkel Horst erkennt und nicht man selbst, erübrigt sich in dem Augenblick, in dem es eine solche Funktion gibt. Auch, warum das Handy acht Fotos nacheinander schießen und dann selbst »das beste« aussuchen kann, ergibt keine Frage: Es kann es einfach, und damit fordert die Funktion auch ihre Anwendung (»Schicke jetzt das beste Foto an Onkel Horst!«). »Galaxy SIII« weiß sogar, wann sein Besitzer es anschaut, und macht sich dann sogleich für ihn hell.


Zu derlei Neuerungen kann man ohne Unterlass irgendwelche »Apps« kaufen, die es einem zum Beispiel ersparen, aus dem Fenster zu schauen, wenn man wissen möchte, ob es gerade regnet, oder die einem den prozentuierten Ballbesitz von Bayern München im Spiel gegen Hannover 96 in Echtzeit mitteilen. Kurz: Das »Galaxy SIII« ist die Verkörperung objektiver Sinnlosigkeit, die in der Hand des Käufers in subjektiven Sinn verwandelt wird. Diesen empfinden zu können ist nicht umsonst: Das muss erarbeitet werden. Man muss dabei nicht dieselbe Meisterschaft entwickeln wie Michael Spehr, der »FAZ«-Handyrezensent, aber einiges muss man über die Jahre schon erlernt haben, wenn man ein Handy bedienen können will.


Der Fortschritt schreitet hier, entgegen dem ersten Anschein, keineswegs in Richtung Entlastung des Benutzers fort, sondern in die exakte Gegenrichtung: Das Gerät will bedient, seine Funktion wollen gewusst und genutzt werden. Diese seltsame Umkehrung des Gerätesinns lässt sich auch bei den ungefragten Updates von Computerprogrammen beobachten, die einem dauernd Lernprozesse abnötigen, die man nicht bestellt hat. Die meisten Menschen absolvieren sie gleichmütig, als folgten sie Befehlen. Ob sie auch so gefügig wären, wenn ihnen jemand alle paar Wochen ihre Wohnung umräumen würde, mit der Begründung, dass das jetzt besser so sei?


Wenn man dieses prothetische Universum der Produkte nur für einen kurzen Augenblick von außen betrachtet, erschrickt man und stellt fest: Viele Erzeugnisse konsumieren mit ihren «•freien Leistungen ihre Käufer und nicht umgekehrt. Das Theorem von Hartmut Rosa überholt sich demgemäß auch sogleich selbst: Nicht nur, dass der Käufer nur noch die Relaisstationen zwischen Herstellung und Entsorgung ist: Auf das Relais «doziert, leistet er konsequenterweise Dienst am jeweiligen Gerät und lässt sich von diesem entmündigen. Wer je den Schrecken erlebt hat, der einen befällt, wenn man am Bahnsteig steht und sein Smartphone vergessen hat und somit für Stunden, womöglich für Tage vom unablässigen Strom der anflutenden Mails und der jederzeit abrufbaren Informationen aus dem Netz abgekoppelt ist, bemerkt - wie in Harold Garfinkels Krisenexperimenten, auf welche implizite Regeln seine Welt gebaut ist. Und dass er längst in eine kommunikative Benutzeroberfläche integriert ist und seine Freiheit lediglich noch darin besteht, von einer vorgegebenen Funktion zur anderen zu springen.


Das ist nicht mehr »das stählerne Gehäuse der Hörigkeit«, das Max Weber zufolge der Kapitalismus geschaffen hat, sondern zeitgemäß ein »smartes« Gehäuse der Hörigkeit: und diese Smartness besteht exakt darin, dass der Nutzer nicht einmal mehr realisiert, dass er seine Freiheit unbemerkt, aber freiwillig an das Gerät abgegeben hat, das für ihn denkt, fühlt, plant und Entscheidungen trifft. Und so findet sich das nächste Element des freimütigen Verzichts auf Freiheit, hier nun nicht, wie oben, A Gestapo seiner selbst, sondern als leichtherzige Selbstentmündigung. Günther Anders hatte schon vor einem halben Jahrhundert von der »prometheischen Scham« gesprochen, die die modernen Menschen im Angesicht dessen empfinden, was sie technisch geschaffen haben. Heute hat sich diese Scham in ein Gefühl prometheischer Unterlegenheit verwandelt: Mein Handy kann mehr als ich.

Quelle: "Selbst denken" von Harald Welzer