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Kritik des Papiers von Peer Steinbrück „Vertrauen zurückgewinnen: Ein neuer Anlauf zur Bändigung der Finanzmärkte“ vom 25. September 2012

Die vorangestellte Analyse Peer Steinbrücks bezüglich der Entstehung der Staatsschulden ist im Wesentlichen korrekt. Er verzichtet darauf die Finanz- und Wirtschaftskrise – kurz: die Krise des Kapitalismus – damit zu erklären, dass die verschuldeten Staaten über ihre Verhältnisse gelebt hätten oder gar Faulheit und Schlendrian eine Rolle spielten.

Sondern er beschreibt: „Zwischen 2008 und 2010 haben die europäischen Regierungen 1,6 Billionen Euro für die Rettung ihres Bankensektors aufgebracht. Das entspricht 13% ihrer gesamten Wirtschaftsleistung. Dreiviertel davon bestanden in Garantien und 400 Milliarden Euro wurden für direkte staatliche Rekapitalisierungsmaßnahmen bereitgestellt. Um einen Absturz der Konjunktur 2009/2010 abzumildern, gaben Staaten weltweit zusätzlich gut 2000 Milliarden US-Dollar für Konjunkturprogramme aus – neue Schulden!...eine Finanz- und Bankenkrise, die sich zu einer Konjunktur- und Wirtschaftskrise auswuchs, in der weiteren Folge die öffentliche Verschuldung in vielen Staaten in die Höhe trieb und nun ganze Staaten und ihre Gesellschaften in einen Strudel reißt.“

Des Weiteren schreibt er: „Die Beschlüsse der Staats-und Regierungschefs der 20 wirtschaftlich stärksten Länder der Welt aus den Jahren 2008 und 2009 stimmten zunächst hoffnungsvoll. Kein Akteur, kein Produkt und kein Markt sollte mehr unreguliert und ohne Aufsicht bleiben und ganze Volkswirtschaften gefährden können. Darüber sind in der EU einige Schritte zur Finanzmarktregulierung und -aufsicht unternommen worden. Sogar mehr als in der öffentlichen Debatte anerkannt wird. Diese Schritte waren notwendig, aber nicht ausreichend."

Außerdem: „Die Politik wird sich eingestehen müssen, dass manch Missstände und Fehlentwicklungen nicht zuletzt auf ihr Zusammenwirken mit Banken oder Fehlanreize für Banken zurückzuführen sind. Das gilt für die Ideologie der Deregulierung, die Politik des „billigen Geldes“, die wirtschaftspolitische Förderung des hemmungslosen Baubooms wie in Spanien oder die Förderung von Wohneigentum als Ersatz für eine steuerpolitische Korrektur zunehmender Verteilungsunterschiede wie in den USA.“

 An dieser Stelle vergisst er die „Fehlentwicklungen“ in Deutschland zu benennen. Organisiert durch Schröders Agenda 2010 liegen die heutigen Realeinkommen auf dem Niveau des Jahres 2000. Das bedeutet, dass der Produktivitätsfortschritt von rund 16% von 2000 bis 2011 (Statistisches Bundesamt, eigene Berechnungen) allein den Kapitalbesitzern zugute kam. Die fehlende Inlandsnachfrage muss durch Staatsausgaben und insbesondere wie in den USA durch private Verschuldung ersetzt werden 

Die Steuergesetzgebung zugunsten von Unternehmensgewinnen, Kapitalerträgen und hohen Einkommen verstärkte die Vermögenskonzentration und führte zu Einnahmeverlusten des Staates, die sich, seit 2000 aufsummiert, zusammen mit den Konjunkturpaketen auf 442 Mrd. Euro belaufen (Berechnungen Eicker-Wolf/Truger). Diese Entwicklung war zum Erlangen von Wettbewerbsvorteilen gegenüber ausländischen Konkurrenten und zur Stärkung der Exportindustrie politisch gewollt und erreichte auch ihr Ziel. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit mündete in zunehmende prekäre Beschäftigungsverhältnisse.

Nun zurück zu Steinbrück: „Insgesamt hat die Finanzbranche allerdings zu den Aufräumarbeiten der von ihr maßgeblich verursachten ökonomischen und sozialen Schieflage zu wenig beigetragen – vor allem nicht zur Bewältigung der enormen Folgekosten, wenn von dem Schnitt für private Gläubiger Griechenlands abgesehen wird. Die Spielregeln der sozialen Marktwirtschaft sind nach wie vor ausgehebelt, wenn die Kosten auf die Allgemeinheit abgewälzt werden, während die Branche an ihren Gewinnen, Dividendenausschüttungen und Boni festhält. Das konstitutiv wichtige Prinzip einer (sozialen) Marktwirtschaft ist ausgehebelt: Haftung und Risiko fallen auseinander, die Privatisierung von Gewinnen steht der Sozialisierung von Verlusten entgegen.“

Ausgestattet mit diesen Erkenntnissen, ist das Abstimmungsverhalten von SPD (und Grünen) bei den europäischen „Rettungsschirmen“ ESFS und ESM völlig unverständlich. Hierzu möchte ich Sahra Wagenknecht zitieren, die in ihrem Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ am Beispiel Griechenland erklärt: „Läuft bei der sogenannten „Gläubigerbeteiligung“ alles nach Plan, wird Griechenland zwar am Ende immer noch über 300 Milliarden Euro Schulden haben, davon werden sich allerdings nur noch 60 Milliarden Euro in privater Hand befinden. Für den Rest bürgt dann der europäische Steuerzahler. Der Begriff „Gläubigersanierung“ wäre daher angebrachter gewesen...Schon 2010 war klar, dass die griechischen Schulden und die Zinssätze viel zu hoch waren, um auf Dauer bedient werden zu können. Aber jeder Monat, um den die Hilfspakete den Staatsbankrott aufgeschoben haben, hat sich für die Banken, Hedge-Fonds und Spekulanten ausgezahlt. Denn in jedem Monat wurden Zinsen kassiert, die sonst nicht geflossen, und Anleihen zurückbezahlt, die andernfalls wertlos gewesen wären.“ 

 Weiter unten führt sie aus, dass die „Hilfen“ für Irland und Portugal und für alle anderen Länder, die künftig noch auf die Rettungsfonds zugreifen würden, auf derselben Logik beruhten. Tatsächlich zahle der deutsche Steuerzahler statt griechischer Renten oder portugiesischer Sozialausgaben internationalen Banken die Extremzinsen, die sie auf Anleihen dieser Länder nur deshalb verlangen könnten, weil deren Zahlungsfähigkeit ständig infrage stehe. Und er übernehme einen immer größeren Teil ihrer Schulden, damit der Staatsbankrott, auf den der explosive Mix aus hohen Zinsen, radikalem Sparen und Wirtschaftsrezession unweigerlich hinauslaufe, für den Finanzsektor am Ende verschmerzbar sei.

Es ist demzufolge ein Widerspruch, wenn Steinbrück die Sozialisierung von Verlusten anmahnt, jedoch die Rettungsfonds mitträgt.

Am Ende der Analyse stellt er die wichtige Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollten. „In einer Gesellschaft, in der mehr Ungleichheit als Leistungsstimulus und Krisen als selbstreinigende Kräfte eines dynamischen Systems verstanden werden? In einer „marktkonformen Demokratie“ (Angela Merkel), in der Demokratie und Gesellschaft zum Spielball entfesselter und entgrenzter Märkte werden, oder in einer demokratiekonformen sozialen Marktwirtschaft?“

Nun bin ich der Frage nachgegangen, was ist eigentlich mit sozialer Marktwirtschaft gemeint. Bei der Bundeszentrale für politische Bildung fand ich folgende Definition:

Soziale Marktwirtschaft bezeichnet eine Wirtschaftsordnung, die auf der Basis kapitalistischen Wettbewerbs dem Staat die Aufgabe zuweist, sozialpolitische Korrekturen vorzunehmen und auf sozialen Ausgleich hinzuwirken. Das wirtschaftspolitische Modell der S. M. wurde nach dem Zweiten Weltkrieg v. a. von L. Erhardt und A. Müller-Armack entwickelt und gilt als Grundlage der dt. Wirtschafts- und Sozialordnung. Der Aufbau eines Sozialstaates als Korrektiv kapitalistischen Wirtschaftens ist aus Sicht der S. M. notwendig, weil die sozialen Verwerfungen des ungehemmten Kapitalismus wesentlich mit zu den politischen Erschütterungen und den beiden Weltkriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beitrugen.

Unabhängig davon, dass der Neoliberalismus den Sozialstaat erfolgreich abbaute und hierbei insbesondere in Südeuropa kein Ende in Sicht ist, zeigt nicht nur die Theorie, sondern auch die Erfahrung, dass der Kapitalismus ohne Krisen nicht zu haben ist. Und deren Lasten haben nicht die Kapitalbesitzer zu tragen. Nach den jeweiligen Wirtschaftskrisen in den 70er bis 90er Jahren erreichten sowohl Arbeitslosigkeit als auch Staatsschulden in den sogenannten Boomphasen nie ihren vorherigen Tiefstand - bauten sich somit sukzessive auf. Der letzte Abbau der Arbeitslosenquote ab 2005 erreichte den vorherigen Tiefstand. Dies geschah jedoch nur durch Absenkung des Lohnniveaus und unter Hinnahme unsicherer Beschäftigungsverhältnisse.

 
 

 Renate Conrad, im Februar 2013