Le Monde Diplomatique, Alain Gresh:
Die dritte Welle innerhalb der arabischen Welt
„Auf, Kinder des Vaterlands! Der Tag des Ruhms ist da!“ An diesem 14. Juli werden die Bewohner per Radio mit der „Marseillaise“ geweckt. Die Menschen strömen auf die Straßen und rufen: „Es lebe die Republik!“, „Tod dem König“. Sie wissen noch nicht, dass der Monarch und ein Teil seiner Familie exekutiert worden sind. Am Abend liest der große Dichter Abdel Wahhab Bayati vor der amerikanischen Botschaft ein Gedicht vor:
„Fanfare für die Helden“:
In meiner Heimat erhebt sich die Sonne
Und die Fanfaren ertönen für die Helden,
Oh, viel Geliebte, erwachet,
Denn wir sind frei wie das Feuer,
Frei wie der Vogel und wie der Tag.“
Bagdad 1958.Die Armee hat soeben die Macht ergriffen, aber es handelt sich bei weitem nicht um einen traditionellen Staatsstreich. Die Menschenmassen, die auf die Straßen strömen, unterstützen das neue Regime vehement. Sie begrüßen die Isolierung der pro-westlichen Monarchie, die nach dem ersten Weltkrieg mit den Bajonetten Britanniens eingesetzt worden war. Zu dieser Zeit hatten sich Großbritannien und Frankreich den Nahen Osten aufgeteilt und dazu willkürliche Grenzen gezogen. Paris erhält ein Mandat für das, was dann Libanon und Syrien wird. London kontrolliert Palästina, Transjordanien und Irak.
In den dreißiger Jahren und erneut nach dem zweiten Weltkrieg organisieren sich in diesen Ländern mächtige nationalistische Bewegungen gegen die Kolonialherrschaft. Die irakische Revolution von 1958 bildet den Höhepunkt dieser Welle, die den ganzen Nahen Osten und den Maghreb erschüttert. Sie fällt aber mit der arabischen Niederlage durch Israel in sich zusammen.
Die zweite Welle ist gekennzeichnet vor allem durch militärische Staatsstreiche und durch den Beginn einer Periode der tiefen Stagnation der arabischen Welt. Diese Periode wird nun zu Anfang des Jahres 2011 durch die von den Tunesiern eingeleitete Bewegung erschüttert.
Die erste Welle
Mehrere Ereignisse kennzeichnen diese Welle. Die „Freien Offiziere“ unter Leitung von Gamal Abdel Nasser erobern am 23.6.1952 die Macht in Kairo. Die algerische Revolution beginnt am 1.11.1954. Marokko und Tunesien werden unabhängig. In Jordanien gibt es riesige Demonstrationen gegen das Regime vom König Hussein. In Saudi-Arabien gibt es soziale Bewegungen und Putschversuche. Von Kairo aus ermuntert der Radiosender „Die Arabische Stimme“ diese Bewegungen, die 1958 zur Bildung der „Vereinigten Arabischen Republik“ (VAR) führten. Am 14. Juli dieses Jahres stürzen Offiziere die irakische Monarchie. 1962 findet in Jemen das gleiche Szenario wie im Irak statt, während sich der Kampf gegen die Briten intensiviert, und zwar um Aden herum und um das, was später Jemen wird.
Diese Welle ist auch durch den Willen gekennzeichnet, die Kontrollen über die vom Ausland beherrschten nationalen Reichtümer wiederzuerlangen. Nasser verstaatlicht die Suez-Kanal-Gesellschaft im Juni 1956. Der Versuch der iranischen Mossadegh-Regierung, das Erdöl dieses Landes zu kontrollieren, scheiterte nach dem Umsturz, den Washington und London 1953 inszenierten. Trotzdem verbreitet und verstärkt sich der Ruf nach der Kontrolle über das schwarze Gold.
Diese nationalistische Welle wird nicht nur von den traditionellen Kolonialmächten abgelehnt, sondern auch von den USA. Diese sind zwar nicht unzufrieden über die britischen und französischen Schwierigkeiten, aber sie akzeptieren den Unabhängigkeitswillen der neuen Regime nicht. Vor allem akzeptieren sie nicht die Weigerung dieser Länder, sich antisowjetischen Abkommen anzuschließen. Trotz einiger Schwankungen bekämpft Washington diese Unabhängigkeitsbestrebungen. Es wird daher zur Zielscheibe der Nationalisten, die sich Moskau annähern. Historische Untersuchungen haben auf die ständigen Befürchtungen des Westens gegenüber der Sowjetunion hingewiesen – überall im Nahen Osten wird die „Hand Moskaus“ gesehen. Diese Untersuchungen haben auch gezeigt, wie realitätsfern diese Angst war. Sie hatte allerdings verheerende Folgen, denn sie brachte den Westen dazu, die nationalistischen Bewegungen mit allen Mitteln zu schwächen, bis hin zur Unterstützung der reaktionärsten islamistischen Bewegungen.
Roger Louis und Owen Roger (1) berichten über die Ereignisse des Jahres 1958 und die falsche Interpretation durch den Westen: Umsturz der irakischen Monarchie; militärische Landung des USA im Libanon; Intervention von britischen Fallschirmjägern in Jordanien.
Diese erste Welle fällt mit der arabischen Niederlage im Krieg von 1967 in sich zusammen. Die Gründe dieses Scheiterns sind vielfältig: westliche Interventionen; Unfähigkeit der neuen Regime, eine wirtschaftliche Entwicklung in ihrem Land einzuleiten; zunehmend autoritäre Verhältnisse, begründet mit der Ablehnung der „parlamentarischen Demokratie“, begleitet von einer Disziplinierung der Gewerkschaften, Einparteiensystemen sowie zunehmender Einschränkung der Meinungsfreiheit.(2)
Zweite Welle (1967-2010)
Diese zweite Welle ist eine Reaktion auf die Niederlage von 1967: Machtergreifung 1968 durch die Baath-Partei in Bagdad; 1970 durch Hafez El-Assad in Syrien, 1969 durch Gaddafi in Libyen und Numeiri im Sudan. Im Südjemen, das im November 1967 unabhängig wurde, siegt im Juni 1969 der marxistische Flügel der Nationalen Befreiungsfront. In den anderen Ländern konsolidieren sich die konservativen Regierungen, sowohl in Saudi-Arabien als auch in Marokko.
In dieser Zeit beginnt auch die wirtschaftliche Öffnung (Infitah) und jeder Versuch eines sozialistischen Weges der Entwicklung wird aufgegeben. Hingegen können alle Länder ihren Erdölreichtum wieder kontrollieren, meistens durch Verstaatlichungen. Saudi-Arabien profitiert davon am meisten und erringt zunehmend eine regionale Rolle zum Nachteil seiner Rivalen. Es zeigt sich allerdings, dass diese Reichtümer sich mehr als ein Fluch für diese Länder erweisen als dass sie ein wirksames Mittel zur Entwicklung sind.
Dieser Zeitraum von 1967-2010 hat folgende Merkmale:
* Absicherung der autoritären Regierungen, seien sie republikanisch oder monarchistisch, die bestenfalls nur eine genehme Opposition ertragen;
* ständige Begrenzung der individuellen und Bürgerrechte, nicht nur in Hinblick auf die Meinungsfreiheit, sondern auch in Bezug auf ein Leben in Würde statt eines Lebens in Willkür und Unterdrückung durch einen willfährigen Polizei- und Justizapparat;
* Kontrolle der Wirtschaft durch eine kleine Minderheit, die sich im Schutze der Regierung bereichert bei gleichzeitiger Verstärkung der Ungleichheiten und der Armut;
* starkes Wachstum der Bevölkerung, so dass Millionen von jungen Menschen sich auf dem Arbeitsmarkt befinden und keine Perspektiven haben außer der Auswanderung in die Golfstaaten oder nach Europa;
* Fortsetzung der Besatzung Palästinas und der Unterdrückung der Palästinenser bei gleichzeitiger Lähmung der bestehenden Regierungen gegenüber den israelischen Angriffen, insbesondere gegen Gaza im Winter 2008/9 (3).
* Das Verbot aller Demonstrationen für die Palästinenser während dieser Ereignisse ist bezeichnend für diese Politik und für die Angst der Regime, dass diese Demonstrationen sich gegen sie wenden könnten. Diese Regime verlieren somit den Vorteil des nationalistischen Diskurses des Kampfes gegen den israelischen Feind. Sie erscheinen immer mehr als Komplizen;
* aufkommende Globalisierung der Information mit Satellitensendern wie Al Jazeera und dem Internet.
Man weiß nie, warum Revolutionen zu einem bestimmten Zeitpunkt ausbrechen. Die hier beschriebenen Bestandteile gibt es seit Jahren. Der Funke ist jedoch – wie häufig – von einem relativ „unbedeutenden“ Ereignis ausgegangen. Ein junger Mann hat sich geopfert. Dieses Ereignis hat unerwarteter Weise die Tunesier aus verschiedenen sozialen und politischen Gruppen vereint. Die direkte Übertragung dieser Ereignisse durch die Satellitensender haben in der ganzen arabischen Welt begreifbar gemacht, was einige Wochen davor noch unmöglich erschien: die bestehenden Regime sind nicht ewig, sie können umgestürzt werden. Jetzt weht ein Wind der Freiheit durch die arabische Welt (4).
Es ist noch zu früh, um zu wissen, wie stark dieser Wind sein wird und welche Regime er hinwegfegen wird. Aber man kann schon voraussehen, dass es für diese Regime nicht mehr möglich sein wird, so wie früher zu regieren, und dass sie nicht mehr diese „arabische Besonderheit“ in der Welt aufrechterhalten können. Die Erklärungen des Königs Abdallah von Saudi-Arabien oder von Mahmut Abbas zugunsten des Präsidenten Mubarak werden daran nichts ändern.
Aber die künftigen Herausforderungen sind nicht gering: Demokratie, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Entwicklung zu verknüpfen wird eine harte Aufgabe sein, die sicherlich viele Kämpfe benötigen wird.
(1) Siehe zur Geschichte:
(2) Monde Diplomatique
http://blog.mondediplo.net/2010-09-27-Nasser-quarante-ans-apres
(3) http://blog.mondediplo.net/2008-12-28-Gaza-choc-et-effroi
(4) http://www.monde-diplomatique.fr/carnet/2011-01-28-Egypte
Übersetzung: „Sand im Getriebe Nr 88“ (attac)
Quelle: www.monde-diplomatique.fr/index/pays/egypte