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Zusammenschluss für ein anderes Europa

( PDF, mit kleinen Änderungen )

Im November treffen sich Vertreter/-innen europäischer sozialer Bewegungen in Florenz, um kontinentumspannende Reaktionen auf die Sparpolitik und die europäische Demokratiekrise zu planen. Tommaso Fattori ruft uns auf, „Florenz 10 + 10“ Priorität zu geben.

Wir erleben in Europa gerade besonders dramatische Zeiten. Die Demokratie liegt im Todeskampf, und wir können beobachten, wie auf nationaler und supranationaler Ebene postdemokratische Prozesse einsetzen. Die Führer/-innen der EU haben die Entscheidungsmacht in Bezug auf öffentliche Politik und Fiskalpolitik noch stärker in den Händen einer Oligarchie aus Regierungen, Technokratinnen und Technokraten und der Europäischen Zentralbank (EZB) konzentriert, die dem Diktat der Finanzmärkte untersteht. Der Neoliberalismus, die wahre Ursache der Krise, ist nicht nur nicht tot, sondern scheint sich vollkommen wohl zu fühlen: Er benutzt die Krise, um soziale Rechte und Arbeiterinnenrechte abzuschaffen und Gemeingüter, öffentliches Eigentum und öffentliche Dienstleistungen zu privatisieren.

Und schließlich befindet sich die unglaublichste Propagandaoperation unserer Tage in vollem Gange: Staaten und „Märkte“ versuchen die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die öffentliche Verschuldung durch übermäßige Sozialausgaben und hohe Löhne verursacht worden sei. In Wirklichkeit hat der Finanzsektor die Krise ausgelöst, und das Haushaltsdefizit in der EU ist das Ergebnis der Krise und nicht ihre Ursache.

In einem solchen Moment ist eine starke gesellschaftliche Reaktion vonnöten: Wir müssen jetzt unbedingt handeln, unsere Kräfte vereinen und die Bedingungen für eine gemeinsame gesellschaftliche Reaktion und eine paneuropäische Mobilisierung herstellen. Es ist objektiv notwendig, einen europäischen Raum „strategischer Bündnisse“ zu schaffen, um gemeinsame Strategien und Initiativen auszuarbeiten und die Solidarität wiederherzustellen. Als die großen Wirtschaftsmächte und die „Troika“ (der Internationale Währungsfonds, die Europäische Kommission und die EZB) mit ihrem Angriff auf Griechenland begannen, waren wir anderen in Europa unfähig, eine gesellschaftliche Reaktion zu organisieren. Stattdessen beschränkten sich die Gruppen auf ihre jeweils eigenen Krisen und ihr eigenes Land und überließen Griechenland sich selbst. Das darf nie wieder passieren.

Das Ende der Zersplitterung
Wir müssen die momentane Zersplitterung unserer Kräfte überwinden. Im Allgemeinen sind wir uns über Analysen und Vorschläge einig – in Europa existieren inzwischen Hunderte einander ähnlicher Dokumente, Aufrufe und Erklärungen, die eine gute Grundlage für eine gemeinsame Plattform bilden ‒, aber wir müssen uns zusammenschließen.

Florenz 10 + 10 ist nur ein Beitrag zu einem allgemeineren Prozess. Wenn wir eine glaubwürdige soziale und wirtschaftliche Alternative aufbauen wollen, ist der kleinste notwendige Raum dafür heutzutage der europäische Raum. Es ist ein Fehler, die globale Dimension des Zusammenpralls von Kapital und Arbeit, Kapital und Natur, Kapital und Allgemeingütern zu unterschätzen. In Florenz wollen wir den echten sozialen Akteurinnen und Akteuren einen geeigneten Raum für Bündnisse und Strategien auf europäischer Ebene bieten und lokale Widerstandsformen und lokale Kämpfe verbinden.

Außerdem müssen wir die Mauer zwischen Ost- und Westeuropa niederreißen, indem wir Osteuropa und den Balkan vollständig in unseren Kampf miteinbeziehen. Und natürlich müssen wir Brücken zum südlichen Mittelmeerraum bauen, wo im Jahr 2013 das nächste Weltsozialforum stattfinden wird.

Und schließlich brauchen wir auch einen Langzeitplan. Genau deshalb lautet der Name 10 + 10 ‒ zehn Jahre nach dem Europäischen Sozialforum (ESF) von 2002, aber vor allem „plus zehn“: Wir müssen eine gemeinsame Strategie und Vision für die nächsten zehn Jahre entwickeln und uns nicht auf Pläne für morgen oder für die nächsten politischen Wahlen beschränken. Es geht darum, zu verstehen, welchen Weg wir einschlagen wollen.

Nicht das ESF
Florenz 10 + 10 ist ein Experiment, das sich auf frühere Erfahrungen und Prozesse gründet: ein Raum, in dem man auf aktionsorientierte Weise alte Verbindungen wiederherstellen kann. Es ist kein ESF, auch wenn der „Vorwand“ für den Beginn des ganzen Prozesses eben das zehnte Jubiläum des ersten ESF war. Das ESF war ein außergewöhnlicher Moment bei der Konstruktion eines kontinentweiten politischen Kollektivs, das Analysen, Vorschläge und Lösungen zur Verfügung stellte. Wären sie in die Politik eingeflossen, hätten sie Europa und die ganze Welt davor bewahren können, in die schreckliche wirtschaftliche, umweltpolitische, soziale und demokratische Krise zu schlittern, die heute herrscht.
 
Zehn Jahre später wollen wir nicht das feiern, was wir damals hatten, und erst recht nicht Methoden wiederverwenden, die in die damalige Zeit und zu unserem damaligen Entwicklungsstand gehörten. Die sozialen Bewegungen haben sich verändert, es sind neue Akteurinnen und Akteure aufgetreten, es gab Niederlagen, aber auch Siege wie den der Bewegung für Wasser und Gemeingüter beim italienischen Referendum vor einem Jahr. Ganz sicher ist es nicht länger an der Zeit, unsere Kräfte auf Tausende von Workshops und Seminaren zu verwenden. Stattdessen sollten wir einen Kern starker gemeinsamer Aktionen und Initiativen schaffen.

Deshalb ist das Programm für Florenz 10 + 10 nicht einfach ein Raum, der mit Hunderten unzusammenhängender Initiativen gefüllt werden soll, oder eine Art „Sommerakademie“ für soziale Bewegungen. Ganz im Gegenteil: Beim internationalen Vorbereitungstreffen in Mailand haben wir gemeinsam die fünf wichtigsten „Bündnisräume“ (oder Fokusgebiete) festgestellt. Wir begannen dabei mit den Themen, an denen europäische Netzwerke und Koalitionen schon jetzt arbeiten.
 
Fünf Hauptgebiete
1. Demokratie
Netzwerke, soziale Bewegungen und Organisationen aus ganz Europa wollen sich dem von oben nach unten verlaufenden faktenschaffenden Prozess durch einen basisdemokratischen Prozess widersetzen, um einen demokratischen Pakt der Bürgerinnen und Bürger zu schließen: die Grundlage für ein demokratisches Europa, in dem die Würde aller Menschen ungeachtet ihrer Herkunft respektiert wird und ihnen individuelle, kollektive, arbeitsbezogene und soziale Rechte zugesichert werden. Es geht auch darum, einen demokratischen Schutz gegen die politische Rechte, gegen Xenophobie, gegen die Zerstörung der Solidarität aufzubauen: Demokratie bedeutet auch, Solidarität wiederherzustellen.
 
2. Finanzen/Schulden/Kürzungsmaßnahmen
Während Florenz 10 + 10 werden wir sowohl über öffentliche als auch über private Verschuldung sprechen, um neue Vorschläge für ein anderes europäisches Wirtschaftsmodell zu formulieren: eines, das frei von Finanzmärkten und Verschuldungsdiktaturen handeln kann, auf Solidarität basiert und die Bevölkerung an Beschlüssen beteiligt, die über unsere Zukunft entscheiden. So werden Kampagnen gegen die Kürzungspolitik und den Europäischen Fiskalpakt und Kampagnen für Schuldenaudits und -tribunale zusammengebracht werden.

3. Arbeitsbezogene und soziale Rechte
Arbeitsbezogene Rechte lassen sich nicht von sozialen Rechten im Allgemeinen trennen, und wir müssen konkrete Alternativen vorschlagen, um allen Menschen ein Leben in Würde und einen Beruf mit Zukunft zu ermöglichen. Es sollen viele verschiedene Vorschläge diskutiert werden, darunter auch ein allgemeines Mindestgrundeinkommen.

4. Gemeingüter und öffentliche Dienstleistungen

Dieser „Bündnisraum“ kombiniert viele Themen, die mit unseren natürlichen, sozialen und digitalen Gemeingütern und öffentlichen Dienstleistungen zu tun haben, etwa Land, Nahrung, Wasser, Energie, aber auch soziale Rechte, Bildung und Wissen. Außerdem thematisiert und widerlegt dieser Bereich die Post-Rio-Agenda zum Thema umweltfreundliche Wirtschaft, Finanzialisierung der Natur und unnötige Infrastrukturanlagen in großem Maßstab, von denen behauptet wird, sie würden uns aus der Krise helfen. Das Ziel ist es, eine gemeinsame Grundlage zu finden und gemeinsame strategische Aktionen zu entwickeln. Außerdem wollen wir konkrete solidarische Lösungen für Menschen finden, die gerade jetzt vor Ort kämpfen, um ihre öffentlichen Dienstleistungen und Gemeingüter vor Privatisierung und Kommerzialisierung zu schützen.

5. Europa im Mittelmeerraum und weltweit
Dieser Bündnisraum gründet sich auf einige fundamentale Elemente: die notwendige Aufgeschlossenheit Europas; Kooperation, Solidarität und fairer Handel; Frieden und soziale Gerechtigkeit; die Unterstützung sozialer Kämpfe für Demokratie und Menschenrechte (die arabischen Revolutionen, der Kampf gegen Besatzung – etwa in den palästinensischen Autonomiegebieten und der Westsahara – und die Rechte ganzer Völker, etwa der Kurden). Weiterhin werden Strategien gegen die Militarisierung des Mittelmeerraums diskutiert werden.

Konkrete Ergebnisse
Bei optimalem Verlauf könnte Florenz 10 + 10 Kernvorschläge für das weitere Handeln erbringen (die Kombination der Ergebnisse aller fünf „Bündnisräume“) und Anfang des Jahres 2013 eine Art großer gemeinsamer europäischer Mobilisierung in Gang setzen. Eine kontinentumspannende Demonstration? Eine internationale Kundgebung in Brüssel? Einen europäischen Streik? Wir sollten zumindest versuchen, etwas zu finden, was wir alle zusammen tun können.

Gleichzeitig möchten wir eine dritte Ebene erstellen: Wir wollen zusammen einen mittel- bis langfristigen Prozess beginnen. Zu den wichtigsten Ideen und Vorschlägen gehört ein „Alternativgipfel“ in Form eines Prozesses, der im November beginnen und in mehreren Stadien ablaufen wird. Dazu gehören mehrere Mobilisierungen und ein Kulminationspunkt im Spätfrühling 2013, vermutlich in Athen.

Hinter der Initiative steht inzwischen ein riesiges Spektrum sozialer Akteurinnen und Akteure, etwa soziale Bewegungen, Gewerkschaften, Bürgerinnengruppen und -initiativen (z. B. für Umweltschutz oder Kultur), Studierendenorganisationen, feministische Gruppen und individuelle Aktivistinnen und Aktivisten.

In Florenz werden viele schon vorhandene Prozesse zusammenkommen: Es gibt das erste Treffen des „European Water Commons Movement“; eine große Versammlung von Aktivistinnen und Aktivisten für Demokratie, bei der sehr unterschiedliche Akteurinnen und Akteure zusammentreffen werden (etwa 15M aus Spanien und Blockupy Frankfurt); das Treffen verschiedener Koalitionen, die zum Thema Finanzen und Verschuldung arbeiten; das Treffen kritischer Ökonominnen und Ökonomen und viele andere.

Florenz 10 + 10 stellt eine Chance und einen Beitrag dar. Es ist kein Prozess für sich; es ist ein entscheidender Teil eines größeren Prozesses. Vielleicht ist es kein perfekter Prozess, und bis November dauert es nicht mehr lange, aber unsere Gegner/-innen – die Wirtschafts- und Finanzmächte, die Technokratinnen und Technokraten – sind sehr schnell, und unsere Bewegung ist zurzeit zu langsam und zu zersplittert.
 
Tommaso Fattori ist ein italienischer Aktivist gegen Privatisierung und ein Mitglied des Organisationskomitees für Florenz 10 + 10. Mehr zu Florenz 10 + 10 unter:www.firenze1010.eu

http://www.redpepper.org.uk/joining-forces-for-another-europe/
Übersetzung: coorditrad / Korrekturen: W.H.