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Kürzer arbeiten und besser leben!

Die nachfolgenden Thesen "Kürzer arbeiten und besser leben!" hat der Bezirksvorstand der ver.di Südhessen am 15. Januar 2020 als Diskussionsgrundlage für die laufende Debatte in ver.di und darüber hinaus einstimmig beschlossen.

1.
Gewerkschaften entwickeln Stärke und Kampfkraft durch ein Höchstmaß an solidarischem Denken und gemeinsamem Handeln ihrer Mitglieder und Sympathisant*innen, nicht durch programmatische und tarifpolitische Anpassung an individualistische Lebensführung und -planung. Das ist auch bei der strategischen Diskussion um und über Arbeitszeitverkürzung zu berücksichtigen. Denn bei aller Unterschiedlichkeit der persönlichen Lage und des "Zugangs" zum Bedürfnis einer wie auch immer gearteten verkürzten Arbeitszeit durch ungleiche Lebenswirklichkeiten, Wünsche, Interessen, Berufsanforderungen usw. muss ver.di versuchen, "verallgemeinernde" Forderungen zu entwickeln, die fachbereichsübergreifend und am besten für die gesamte Organisation "mobilisierungsfähig" sind, weil sie von möglichst vielen Mitgliedern auch aktionsmäßig unterstützt werden.

2.
An der bereits aktuell zu erhebenden Forderung nach einer dauerhaften und deutlich spürbaren Verringerung der wöchentlichen Arbeitszeit auf 30 und weniger Stunden1 als arbeitszeit- und tarifpolitisches Ziel darf bei allen möglichen "Zwischenschritten" kein Weg vorbeiführen. Denn nur mit radikaler Arbeitszeitverkürzung kann eine gesamtgesellschaftliche sowohl quantitativ als auch qualitativ solidarische neue Verteilung von Arbeit bei steigender Produktivität auf alle tatsächlichen und potentiellen Erwerbstätigen verwirklicht werden. Dies setzt selbstverständlich voraus, dass mit einer solchen Arbeitszeitverkürzung gleichzeitig auch ein durch Gewerkschaften nachprüfbarer und einklagbarer voller Lohn- und Personalausgleich zum Ziel gesetzt und erreicht wird. Die schlechten Erfahrungen bei früheren Verkürzungsschritten der Wochenarbeitszeit – insbesondere der 35-Stunden-Woche in bestimmten Branchen wie der Metall- und Elektroindustrie sowie der Druckindustrie – durch Unterlaufen des Personalausgleichs sowie des "Freizeit- und Erholungseffekts" aufgrund von kontinuierlicher Produktivitätssteigerung und ausgeklügelten Mehrarbeitsregelungen sollte nicht abschrecken, sondern anspornen, solchen Gefahren frühzeitig vorzubeugen und in der Praxis wirkungsvoll zu begegnen.

3.
Das tarifpolitische Ziel einer deutlichen wöchentlichen Arbeitszeitverkürzung erscheint auch die sozialpolitisch "effizienteste" Variante einer Neugestaltung von Arbeitsorganisation und Arbeitszeit in den Dienststellen und Betrieben zu sein. Denn auf Grundlage eines solchen Rechtsanspruchs ergäben sich größere Chancen für individuelle und kollektive Modelle für Beschäftige und Belegschaften beispielsweise für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf – unter emanzipatorischen Gesichtspunkten nicht vorrangig für Kolleginnen, sondern für alle interessierten Beschäftigten; eine nachhaltige Gesundheitsförderung durch Abbau von schädigendem Stress, krankmachender Überforderung und arbeitsverdichtender Flexibilität; eine gezielte Verbindung von Erwerbsarbeit mit beruflicher wie politischer Weiterbildung; für Ältere eine nicht nur punktuelle, mehr oder weniger kurzzeitige, sondern anhaltende Möglichkeit der Regeneration ihrer Arbeitskraft; eine gesellschaftlich "geförderte" und bewusst geschaffene Zeit für gewerkschaftliches und politisches Engagement sowie ehrenamtliche Tätigkeit in Sport- und Kulturvereinen; ausreichende Gelegenheiten zum Genießen nicht erwerbszweckgebundener oder -orientierter Freizeit durch körperliche und psychische Entspannung, zur geistigen "Belebung" und/oder zum sinngebenden Nichtstun.

4.
Die Auseinandersetzung um die Verkürzung der Wochenarbeitszeit kann allerdings erfolgreich nur geführt werden, wenn sie von ver.di nicht bloß von Branche zu Branche "nacheinander" thematisiert und zur Forderung erhoben wird, sondern in dieser Forderung die Interessen aller Organisierten (und letztlich aller Beschäftigten) zu einem Ziel der gesamten Gewerkschaft gebündelt und gleichzeitig für "alle" erhoben wird. Eine entsprechende Kampagne sollte – auch aus der Erfahrung des Kampfes um die 35-Stunden-Woche – gesellschaftlich angelegt sein und möglichst viele Branchen und Beschäftigte außerhalb des Organisationsbereichs der ver.di positiv anzusprechen und zu interessieren versuchen. Damit ist eine Debatte über die sozial- wie tarifpolitisch sich katastrophal auswirkenden prekären Beschäftigungsverhältnisse wie Mini- und Midijob, sachgrundlose Befristung, ausufernde Teilzeit, Leiharbeit, Arbeit auf Abruf usw. zu verknüpfen. Dadurch kann den unter solchen Bedingungen Arbeitenden die Perspektive zur Rückkehr zu einem Vollzeit-"Normalarbeitsverhältnis" aufgezeigt werden. So lässt sich die Basis für eine aktive Unterstützung der Auseinandersetzung verbreitern.

5.
Insbesondere der mit einer empfindlichen Verkürzung der Wochenarbeitszeit unvermeidlich verbundene Personalausgleich würde sich auf die Berufsperspektive von Beschäftigten in Erwerbslosigkeit und Zwangsteilzeit, aber ebenso für junge Leute ohne bisherigen Rechtsanspruch zur Übernahme nach der Ausbildung positiv auswirken. Kombiniert mit einer Rückführung des Eintrittsalters für die Regelaltersrente von 67 Jahren auf 63 Jahre könnten bisher manchmal abseits stehende ältere wie jüngere Beschäftigte aktiviert und in die betriebliche wie gesellschaftliche Auseinandersetzung zur Neuverteilung von Arbeit und Arbeitszeit einbezogen werden. ver.di würde dadurch ihr Profil als Interessenvertretung für alle letztlich auf abhängige Beschäftigungsverhältnisse angewiesene Menschen schärfen. Auf diese Weise wäre ebenso eine stärkere Wahrnehmung ihres "allgemeinpolitischen Mandats" programmiert und könnte die Glaubwürdigkeit eines konsequenten gewerkschaftlichen Engagements in der Gesellschaft bei Zweifelnden wiederherstellen und bei passiv Abwartenden erneut festigen.

6.
Die nachhaltige und spürbare Verkürzung der Wochenarbeitszeit zum tarifpolitischen Ziel erhebend, würden "Zwischenlösungen" der Schaffung von mehr Freizeit zu einer schrittweisen Verbesserung der Arbeits- und Lebenssituation von Beschäftigten beitragen. So genannte "Optionsmodelle" sind allerdings darauf zu prüfen, ob und wem sie tatsächlich eine reale Möglichkeit der Gestaltung und/oder Entlastung im weitesten Sinne bieten oder ob sie sich für wenige als durchaus attraktiv erweisen, während sie für viele bloß eine "Scheinoption" darstellen. ver.di muss dabei beispielsweise die Frage beantworten: "Wer kann sich Verfügungstage leisten?" Wenn Beschäftigte schon aus finanziellen Gründen nicht in der Lage sind, sich für die "Option" zusätzlicher freier Tage, Blockfreizeiten oder Arbeitszeit(spar)konten für Sabbatjahr(e) und/oder ein früheres Ausscheiden aus der Erwerbstätigkeit entscheiden zu können, sondern heute schon zum Bestreiten des notwendig(st)en Lebensunterhalts immer zur Wahl des Mehr an Einkommen durch längere Arbeitszeit greifen müssen, dann besteht die Gefahr, dass solcher Arbeitszeitverkürzung eine breitenwirksame "soziale Komponente" fehlt. Für ver.di entsteht dabei das reale Risiko bei den eher schlecht, weil nicht auskömmlich verdienenden und prekär Beschäftigten an Vertrauen zu verlieren.

7.
Darüber hinaus ist bei den bisher üblichen tariflichen "Wahlmöglichkeiten": Geld oder Freizeit, grundsätzlich zu problematisieren, ob hierbei nicht eine "Scheinlösung" favorisiert wird, welche die Beschäftigten durch Verzicht auf höhere Einkommen selbst finanzieren (müssen). Die jahrelange Erfahrung zeigt, dass in Tarifrunden in aller Regel bloß ein Ausgleich für die Preissteigerungsrate, absolut selten dagegen noch eine spürbare Teilhabe am Produktivitätsfortschritt erstritten werden kann, während jede Form einer "Umverteilungskomponente" im Ergebnis fast völlig "verschwunden" ist. Von der Verringerung des Rentenanspruchs und eventuell auch des aktuellen Lebensstandards bei der Wahl: Freizeit statt Geld, einmal abgesehen, wird mit den bisher angebotenen "Optionsmodellen" kein wirklicher sozialpolitischer Fortschritt erreicht, sondern die zusätzlich "gewonnene" Frei- und/oder Verfügungszeit weiterhin mit einem durchweg fremdbestimmten und ausschließlich profitorientierten sowie immer flexibleren Einsatz der Arbeitskraft der Beschäftigten "erkauft". Der "Preis" dafür könnte sich nicht nur für ver.di als politisch (zu) hoch erweisen, weil ihre Durchsetzungsfähigkeit tatsächlicher sozial- und tarifpolitischer Fortschritte angezweifelt werden könnte. Für die Beschäftigten ergäbe er sich aus der "Milchbubenrechnung": höhere Arbeitsverdichtung, stressigere Arbeit, zunehmende gesundheitsbeeinträchtigende Leistungssteigerung gegen ein wenig mehr an punktueller Erholung und Frei- oder Verfügungszeit.

8.
Die Frage und Aufgabe einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit in und für ver.di stellen, heißt selbstverständlich gleichzeitig, die Notwendigkeit des Aufbaus und der Erweiterung ihrer betrieblichen Kampfkraft und ihres gesellschaftlichen Einflusses auf die politische Meinungsbildung und Mobilisierung zur zentralen Herausforderung zu erheben. Denn schon aus der Erfahrung früherer Kämpfe um Arbeitszeitverkürzung, aber bereits aus den Erkenntnissen aktueller tariflicher Auseinandersetzungen darf es als gewiss gelten, dass hierbei "dickste Bretter zu bohren" sind:

  • den Organisationsgrad und die Kampfbereitschaft in Betrieben und Dienststellen erhöhen und selbstverständlich Arbeitskämpfe vorbereiten;
  • die Standhaftigkeit und Überzeugungskraft von Vertrauensleuten, ehrenamtlichen Funktionär*innen und hauptamtlichen ver.di-Sekretär*innen stärken;
  • eine eher ungeliebte öffentliche Diskussion initiieren;
  • die mediale Macht der widerstreitenden Unternehmen, ihrer Verbände und gleichgesinnter Politiker sowie Wissenschaftler notfalls mittels eigener Kommunikationswege systematisch durchbrechen;
  • den arbeitenden und erwerbslosen Menschen das aufbauende und motivierende Gefühl ihrer eigenen Stärke beim Bezwingen von tatsächlicher Angst und/oder vermeintlicher Ohnmacht, der Verbesserung der Erfolgsaussichten durch eine Grenzen überwindende Solidarität und die Hoffnung auf eine nachhaltige Veränderung der politischen und wirtschaftlichen "Verhältnisse" zu ihren eigenen Gunsten aufzeigen und geben.

Gleichwohl lohnt es sich, die strategisch wichtige Frage einer deutlich spürbaren und allgemeinen Verkürzung der Wochenarbeitszeit sofort zu stellen und künftige Tarifrunden auch mit Blick auf dieses Ziel stärker zu politisieren, um sie zu "Katalysatoren" einer viel breiteren und stärkeren tariflichen Auseinandersetzung um dieses Ziel zu entwickeln. Denn was schon bei der Gründung von Gewerkschaften, aber heute noch so aktuell und wichtig wie vor mehr als 130 Jahren ist: Kürzer arbeiten heißt besser leben!