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Arbeitszeitverkürzung in Zeiten von Corona

Wir erleben gerade - völlig ungeplant - ein gesellschaftliches Großexperiment mit Arbeitszeitverkürzung.

Trotz des Schreckens und der großen Sorge um sich selbst und unsere Mitmenschen wegen Corona bietet diese Situation Erfahrungschancen, die wir für unser Streiten für kürzere, gerechter verteilte und menschen- und naturfreundliche Arbeitszeiten nutzen können und sollten. Hier ein paar erste Überlegungen dazu.

1. Kurzarbeit ist schnell, umfassend, unbürokratisch und relativ großzügig bemessen eingesetzt worden, um Arbeitsplätze zu erhalten. Damit wird an die guten Erfahrungen mit der Kurzarbeit in der Finanzkrise 2008-2010 angeknüpft, wo diese insbesondere in Deutschland angewandte Maßnahme dazu geführt hat, dass wir bei einem Rückgang des BIP um -5,6 % einen Zuwachs der Arbeitslosigkeit um nur +1% zu verzeichnen hatten. Das hat uns die bewundernde Charakterisierung "Deutsches Beschäftigungswunder" von unseren europäischen Nachbarn eingetragen.

das zeigt, dass arbeitszeitverkürzung, in diesem falle von der versichertengemeinschaft subventioniert, das geeignete instrument zur sicherung von arbeitsplätzen ist, vor allen anderen. Die von verschiedenen Seiten, v.a. den Gewerkschaften geäußerte Kritik, dass die Höhe von 60% für Alleinstehende und 67% für Menschen mit Kindern des letzten Nettogehalts insbesondere für Beschäftigte in den unteren und mittleren Lohngruppen zu niedrig ist und die etwa von verdi erhobene Forderung das Kurzarbeitergeld auf 90% des letzten Netto anzuheben verweisen auf die Richtigkeit unserer Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung auf (zunächst) 30 Wochenstunden mit vollem Lohnausgleich, mindestens für die unteren und mittleren Gehaltsgruppen.

2. Wir erleben durch das verordnete zuhause Bleiben und die Schließung von Geschäften, Lokalen, Betriebe, Kulturstätten und das Ausfallen von Events aller Art eine riesige kollektive Zwangsentschleunigung.

Das wird von den Einen als zwar ungewohnte, aber willkommene Entlastung vom sonst normalen Alltagsstress durch oft zu intensive, für manche auch zu lange, Arbeit, Einkauf, Unvereinbarkeit von Familie und Beruf etc. empfunden. Von Manchen auch als Chance, als Zeit für Besinnung aufs Wesentliche, Zeit für die Familie, Zeit zum Lesen (was man immer schon mal lesen wollte), Zeit für lange Spaziergänge, Zeit für kreative Betätigung wahrgenommen. Viele machen auch eine ganz neue Bekanntschaft mit ihren Kindern oder Partner*innen, einfach weil endlich mal die gemeinsame Zeit dafür da ist (muss nicht unbedingt angenehm sein, erhöht aber die Realitätshaltigkeit der Beziehungen).

Für Andere ist diese Zwangsentschleunigung dagegen eher eine Last oder ein Alptraum: Viele wissen mit der vielen freien Zeit nichts anzufangen, ihnen fällt in beengten Verhältnissen und in der erzwungenen Isolation die Decke auf den Kopf, häusliche Gewalt nimmt wie sonst in Zeiten um Weihnachten und Neujahr zu.

3. Das verweist auf große Klassenunterschiede in der Erfahrung von und der Verfügung über Zeit.

Für mache Menschen, eher die mit einem niedrigeren Bildungsgrad und eher Männer, ist freie Zeit ohne jede Chance auf berufliche Betätigung häufig nur leere Zeit. Wenn die Erwerbsarbeit, wie fremdbestimmt und anstrengend auch immer, der einzige Sinn- und Zeitstrukturgeber im Leben ist, wird Zwangsfreizeit zum Fall in eine sinnlose, unstrukturierte Leere, die unter Bedingungen der Isolation noch schwerer auszuhalten ist.

Für Andere hingegen, eher die mit höherer Bildung und insbesondere die mit kreativen Betätigungen, bietet die freie Zeit einen gerne genutzten Raum für die Entfaltung der eigenen kreativen Fähigkeiten. Für sie ist die unverhofft dazugewonnenen freie Zeit Zeit für freie Betätigung.

Diese Klassenspaltung im Umgang mit freier Zeit ist übrigens auch ein Grund dafür, warum ein bedingungsloses Grundeinkommen klassenspezifisch sehr unterschiedliche Auswirkungen hätte, weil es je nach Voraussetzungen nur sehr unterschiedlich genutzt werden könnte. Deswegen würde ein bedingungsloses Grundeinkommen nur in Kombination mit radikaler Arbeitszeitverkürzung und dadurch möglicher Verteilung aller gesellschaftlich notwendiger Arbeit (auch Haus- und Sorgearbeit) auf Alle emanzipatorisch wirken. was nicht Zwangsarbeit bedeutet (lt. von der BRD ratifizierter ILO-Grundnorm in Deutschland sowieso verboten), sondern nur die Chance für alle, die eine Erwerbsarbeit wollen (und das ist die riesige Mehrheit aller in Deutschland Arbeitenden und Arbeitslosen), diese auch zu bekommen.Uund damit der Zugang zu Sinngebung und Zeitstrukturierung für diejenigen, die dafür keine anderen Quellen haben. Gleichzeitig haben alle die Chance, schlechte, unwürdige Arbeit abzulehnen.

4. Eine kleine, aber langfristig nicht unbedeutsame Erfahrung durch Corona ist auch, dass die Kinder sich ihren Heimunterricht (in den Familien, wo so etwas stattfindet) häufig spontan auf die Zeiten legen, die ihrem Biorhythmus entsprechen, also frühestens ab 9.00. Sie beenden damit den Wahnsinn des in Deutschland üblichen Schulzeitregimes, das mit seinem Beginn um i.d.R. 8.00 die Kinder jeden Tag ca. 2 Schulstunden verlieren lässt, weil sie zu früh aus dem Schlaf gerissen worden sind.

Auch manche der Erwachsenen, die jetzt im Homeoffice arbeiten, können ihre Arbeit besser ihrem Biorhythmus anpassen (bekanntlich gibt es genausoviele Nachtigallen wie Lerchen).

5. Wir erleben gerade unverhofft das, was fridays for future und die ganze Klimabewegung so dringend fordern, nämlich Degrowth, allerdings by Corona. Durch das coronabedingte Zusammenbrechen der globalen Lieferketten, das Herunterfahren der Produktion auf das Überlebensnotwendige, die Reduktion von Pendel- und Berufsverkehr durch zuhause Bleiben und Homeoffice und das Stornieren allen klimaschädlichen Tourismus haben wir ungeplant die Reduktion von Treibhausgasemissionen, die wir eigentlich geplant umsetzen müssten, wenn wir das 1,5 %-Ziel einhalten wollen. Dank Corona haben wir gerade in etwa die durchschnittlichen Arbeitszeiten, die wir nur noch arbeiten dürfen, wenn wir den Klimawandel noch stoppen wollen. Laut einer Studie unseres AG ArbeitFairTeilen-Mitglieds Philipp Frey sind dies für entwickelte Gesellschaften wie Deutschland zwischen 6 und 12 Wochenstunden (The Ecological Limits of Work: on carbon emissions, carbon budgets and working time, 2019, Autonomy Research Ltd., Hampshire). Philipp Frey hat dazu den passenden Slogan entwickelt: "Freedays for Future!". Damit realisieren wir z.z. ungewollt das, was Oswald von Nell-Breuning, der Nestor der katholischen Soziallehre, schon vor 35 Jahren im Zusammenhang mit dem Kampf um die 35Stundenwoche gesagt hat (in einem interview mit Oskar Negt im Vorwärts): wenn wir auf alle Rüstungs-, Verschleiß- und Unsinnsproduktion verzichten würden, könnten wir bei gleichbleibendem Lebensstandard mit einer 8Stundenwoche auskommen.

6. Gleichzeitig zeigt sich durch die Coronakrise, was die eigentlich systemrelevanten Tätigkeiten sind. Es sind nicht die Autobauer und Banker, die eine Gesellschaft am Leben erhalten, sondern die Menschen in der Pflege, im Gesundheitswesen, in der Herstellung und im Verkauf von Lebensmitteln. Diese nicht zufällig zum großen Teil von Frauen ausgeübten Tätigkeiten werden jetzt in ihrer Bedeutung für den Erhalt der Gesellschaft erstmals wirklich erkannt und anerkannt, bisher allerdings nur symbolisch. Real führt die Situation für Viele von ihnen erstmal zu ausufernden Arbeitszeiten mit Doppel- und Dreifachschichten, Sonntagsöffnungen u.ä.. Hier rächt sich die jahrzehntelange Unterausstattung, Unterbewertung und Unterbezahlung dieser Tätigkeiten. Hier erweist sich die absolute Notwendigkeit des von verdi angeführten Kampfes um die Höhergruppierung aller Tätigkeiten im Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialwesen und um eine angemessene Personalausstattung in der Pflege (Entlastungs-Tarifverträge wie z.b. bei der Charité). Letzteres ist eine Voraussetzung dafür, dass Arbeitszeitverkürzung überhaupt umgesetzt werden kann. In der jetzigen Krise gibt es allerdings schon Krankenhäuser, die ihr Pflegepersonal auf 6Stundenschichten umstellen, um es vor dem Ausbrennen zu bewahren. Die guten Erfahrungen in der Pflegeabteilung der Stadt Göteborg mit dem 6Stundentag bei vollem Lohnausgleich und teilweisem Personalausgleich sind hier beispielgebend.

7. Nach Corona kein Weiter wie Vorher. Wir müssen alles daransetzen, dass die guten Elemente der Erfahrungen, die jetzt mit der Zwangsarbeitszeitverkürzung durch die Krise gemacht werden, bewahrt und in die Zukunft transferiert werden. Es gibt bereits jetzt Stimmen (z.b. der Zukunftsforscher Daniel Dettling), die für die generelle Einführung der 4Tagewoche nach Ende der Krise plädieren. All die guten Seiten: weniger Arbeiten als Klimaschutz, Homeoffice zur Minimierung von klimaschädlichem Verkehr, mehr Zeit mit der Familie verbringen Können, kürzer Arbeiten um Arbeitsplätze zu sichern (was für die in ca. 10 jahren wirklich durchschlagenden Auswirkungen von Digitalisierung und Automatisierung von höchster Relevanz werden wird), Entschleunigung und Entstressung als Gesundheitsschutz und Zugewinn an Lebensqualität, Entfaltung von Kreativität, Zeit zum Nachdenken und potentiell Mitbestimmen zu gewinnen sollten wir als starke, nun von der Empirie der Arbeitszeitverkürzung in Zeiten von Corona gestützte, Argumente für unsere Forderung nach kurzer Vollzeit um die 30 Stunden pro Woche für Alle nutzen und entwickeln. Wobei die Verteilung dieser durchschnittlich ca. 30 Stunden je nach konkreten Umständen ganz unterschiedlich sein kann (auch wenn für Menschen mit täglich anfallenden Betreuungs- oder Pflegeverpflichtungen die gleichmäßige Verteilung auf 5 Tage das Passendste sein dürfte): 5 Tage mit 6 Stunden, 4 Tage mit 7 Stunden, 3 Tage mit 10 Stunden, Projektphasen kombiniert mit längeren Auszeiten etc.

Margareta Steinrücke

30.3.2020