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Vom Nein zum Surfpark zum Ja für ein Konzept des Fussabdruckes

Es soll in Krefeld am Elfrather See ein sogenannter "Surfpark" geplant werden. Das Wort ist ein Euphemismus, eine beschönigende Bezeichnung für eine Sache, die in Wirklichkeit weit weniger schön ist. Es handelt sich um eine aufwändige technische Anlage, eine Wellenproduktionsmaschine. Ein natürliches stehendes Gewässer soll mithife von Stahl, Beton und erheblichem Energieaufwand in ein Gewässer verwandelt werden, in welchem künstliche Wellen natürliche Gezeiten von Ebbe und Flut simulieren. Die Umgebung des natürlichen Sees soll entsprechend in versiegelte und zugepflasterte Zubringer-Areale für Verkehr und und sonstige zuarbeitende Infrastruktur verwandelt werden. Dieses unnötige Bauvorhaben muss angesichts der sich zuspitzenden ökologischen Katastrophe (die eine Doppelkrise als Klima-und auch Ressourcenkrise ist) gestoppt werden. Dies aus folgenden Gründen:

Ändern wir unseren bisherigen Lebensstil mit enormen Wohlstansansprüchen nicht, laufen wir auf eine Erderwärmung von 3-4°C zu. Das heißt: Hitzewellen, wie es sie seit 5 Mio. Jahren nicht mehr gegeben hat; Italien, Spanien, Griechenland werden zu Wüsten; bei fast vollständigem Abschmelzen der grönländischen Eisdecke steigt der Meeresspiegel um mehrere Meter und überflutet zahlreiche Städte, zB. Amsterdam und New York, macht küstennahe Regionen komplett unbewohnbar; fast die Hälfte der Arten stirbt aus; die (restlichen) Regenwaldgebiete vertrocknen; Ernteerträge brechen um die Hälfte ein, dadurch entstehen weltweite Hungersnöte; Wassermangel wird weltweit grassieren, besonders extrem in Afrika und Asien. Es wird Kriege um Ressourcen, Nahrungsmittel und Wasser geben, Flüchtlingssströme in ganz anderen Größenordnungen als bisher werden vor allem nach Europa kommen. Die Überflutungen im Sommer 2021 in Deutschland sowie die zunehmenden Stürme im Winter sind erst der Anfang, wenn wir nicht grundsätzlich unsere Lebensweise ändern.

Von in Deutschland 10 Tonnen CO2 pro Kopf auf 2-3 Tonnen pro Kopf muss die Öko-Bilanz sinken, wenn wir nach weltweit abgeglichenen Klimagerechtigkeitsmaßstäben die Erwärmung noch unter 2 Grad halten wollen. Mit 10 Tonnen/Kopf liegt die Bundesdeutsche ziemlich genau über dem Weltdurchschnitt von 5 Tonnen/Kopf. Der geplante sogenannte "Surfpark" trüge aber zum Gegenteil bei, er befeuerte den Weg in die ökologische Katastrophe. Ist überhaupt bisher die entscheidende Frage erhoben worden, nämlich wieviel Ressourcenverbrauch und Emissionen das Projekt insgesamt verursacht? Offensichtlich nicht, aus der Kaskade von Gutachten, die das Projekt ökologisch so in Einzelteile zerlegen, dass jeweils für eine untergeordnete Fragestellung grünes Licht gegeben werden kann, wird der Gesamtzusammenhang völlig ausgeblendet. So gibt es z.B. eine Berechnung für den CO2-Ausstoß für das Verkehrsaufkommen, aber keinerlei Berechnungen für die Bauvorgänge selbst (Wellenmaschine, Gebäude, Straßen, Parkplätze), für die Energie (selbst wenn diese aus Erneuerbaren stammt, muss ein CO2-Fußabdruck für die Herstellung auch dieser Energieträger berechnet werden), für die Betreibung der Infrastruktur, für die Konsumprodukte (Ausrüstungen zum Surfen selbst und zumTransport), zu deren Kauf die Leute dann ja ausdrücklich angeregt werden sollen, für die verwaltungsmäßigen und juristischen Tätigkeiten, die das Vorhaben begleiten. Aber immerhin weist das von der Betreiberfirma Elakari (ist das objektiv und neutral??) beauftragte Gutachten auch schon lediglich für den Verkehr ein CO2-Volumen von 600 bis 700 Tonnen jährlich aus, das ist in etwa das, was 60 bis 70 Bundesbürger im Durchschnitt jährlich verbrauchen, wenn von einem individuellen Fußabdruck von ca 10 Tonnen ausgegangen wird.

Man sagt, die Gutachten seien erst zu sichten. Was soll das heißen? Der Sinn von Gutachten ist, dass Regeln und Grenzwerte eingehalten werden sollen und Bedenken ausgeräumt werden können. Das macht aber keinen Sinn bei einer Maßnahme, die von vornherein überhaupt gar nicht notwendig ist. Schon der erste Baggerhub, der erste gefällte Baum, das erste Kilo Beton ist hier zu viel, schon die Überschreitung von null Emissionen fragwürdig. Das nachhaltigste Prinzip (neben Effizienz und Konsistenz) heißt Suffizienz: Ich unterlasse alles, was zugunsten der Öko-Bilanz an Ressourcenverschwendung, Emission, Naturdeformation unterlassen werden kann. In einer Kultur, die auf Aktionismus, Machbarkeit, techno-konsumistischen sogenannten "Fortschritt" setzt, ist dieser notwendige Paradigmenwechsel hin zu einer Kultur, die Mensch, Erde und Natur schützen könnte, noch nicht verstanden worden. Das Sein-Lassen ist unter dem Vorzeichen der drohenden Öko-Katastrophe das neue Tun. In der taoistischen chinesischen Philosophie gibt es einen Begriff dafür: das Wu wei, das Nicht-Tun. Damit ist nicht gemeint, dass man alles beliebig geschehen lässt, auch wenn Handeln notwendig ist, sondern es heißt, dass im Geschehen-Lassen der Dinge natürliche Kräfte für das Richtige sorgen können, dass aktionistische menschliche Ein- und Übergriffe oft mehr schaden als nutzen. Es gibt Selbstheilungskräfte der Natur (der beste Wald z.B. Ist der ,der nicht vom Menschen "gepflegt" wird) und Selbstheilungskräfte im menschlichen Körper und in menschlicher Psyche. Das Wu wei ist genau der Suffizienzansatz,den die Öko-Krise heute mehr denn je erfordert: das kluge und heilsame Sein-Lassen muss das Korrektiv zu einem gigantomanischen Weltbearbeitungs- und Weltvernutzungsprozess sein, der zur Zeit in die Klima- und Ressourcen-Katastrophe führt. Suffizienz steht gegen den von Klimawissenschaftlern analysierten Rebound-Effekt und das Greenwashing. Der Rebound-Effekt besteht darin, dass materielle Produktionsprozesse als "grün" und "klimaneutral" ausgegeben werden und dadurch am Ende durch bedenkenlose Konsumsteigerung zu mehr Emissionen führen als vorher. So sind Autos und Waschmaschinen z.B. deutlich energieeffizienter geworden, aber die Emissionen haben bei beiden Produkten durch Mehr-Konsum zugenommen. Dass dies erst recht für ein Projekt gilt, das erst gar nicht notwendig ist, liegt auf der Hand.

Von einem "Leuchtturm-Projekt" für Krefeld schwärmt der Oberbürgermeister Meyer. Was soll das sein? Es ist ein Symbol für nicht mehr zeitgemäße kommunale Selbstvermarktungsstrategien, in denen andere durch den eigenen Glanz überstrahlt werden sollen: Konkurrenz der Städte um Anerkennung, profitable Gewerbe und solvente Kundschaft dürfen nicht mehr das primäre Ziel sein, sie müssen in den Hintergrund treten zugunsten von Allianzen für die notwendige sozial-ökologische Transformation, für Kooperation bei echten Nachhaltigkeitsprojekten, die zu anderen Konsummustern und zu kreativen, sozialen und kommunikativen Erfahrungen statt zu konsumistischer Verschwendungssucht bei den BürgerInnen der Städte sorgen. Ein stark gerätelastiger Sport muss ein Auslaufmodell in einer wirklich nachhaltigen Gesellschaft werden, wenn man bedenkt, wie viel Ressourcen und Emissionen allein schon die Herstellung eines Surfbretts samt Segel, Zubehör und Transport verbraucht. Direkt am Meer mag das ja noch angehen, aber ridiküle Wellen-Imitate auf einem kleinen See sind so bedrückend beschränkt wie künstliche Landschaften im zoologischen Affenhaus, mit dem Krefeld ja bekanntlich auch traurige Erfahrungen gemacht hat. Ein Leuchtturm, das sei dem sich im Glanz einer Vorzeigestadt sonnen wollenden OB ins Stammbuch geschrieben, gehört an die Meeresküste, nicht aber in eine Stadt, die wegen anderer Gewässer, See und Fluss, imteressant genug ist. Dass aber, weil in 50 Jahren Krefeld durch den Anstieg des Meeresspiegels von den Niederlanden her zur Küstenstadt geworden ist und deswegen dann wirklich einen Leuchtturm braucht, wollen wir doch lieber nicht, oder?

Es gibt dutzende naturzerstörerische Bauvorhaben, gegen die von engagierten BürgerInnen gekämpft wird. Als Beispiel sei nur der bisher erfolgreiche Kampf gegen die Abholzungen im Baerler Busch nödlich von Moers genannt. Gegen den sogenannten "Surfpark" wehrt sich bekanntlich auch eine Bürgerinitiative mit zunehmendem Zuspruch. Wir dürfen nicht zulassen, dass Krefeld, das jüngst das von Experten begleitete Programm "KrefeldKlima 30" und den Klimanotstand beschlossen hat, sich in Sachen Ökologie vor aller Welt unglaubwürdig macht.

Hätten wir ein angemessenes Öko-Budget pro Person, mit dem wir die Klimaziele noch erreichen könnten, müssten potentielle E-See-Surfer wahrscheinlich den ganzen Winter lang ihre Heizung abstellen, auf Urlaubsreisen verzichten oder ihre Ernährung einschränken oder Sonstiges, um ihr Budget durch die Nutzung des "Surfparks" nicht zu überschreiten. So aber sind sie verantwortlich für eine enorme Umweltbelastung, die auch diejenigen BürgerInnen schädigt, die sich diesen Freizeit-Luxus überhaupt nicht leisten können. Das Projekt widerspricht allen Klimagerechtigkeitszielen, innerhalb Krefelds, innerhalb Deutschlands, erst recht weltweit.

Genau dieses Konzept eines Öko-Budgets pro Person liegt nun vor!

 

Es knüpft an die auch im Attac-Papier "Jenseits des Wachstums" vertretene Auffassung an, dass wir unseren imperialen Lebensstil aufgeben und für eine weltweit solidarische Lebensweise eintreten wollen.

 

In aller Kürze:

  • die CO2-Emissionen (und andere in CO2 umgerechnete Schädigungen) werden in allen Geschäftsprozessen ausgewiesen. Bei allem, was ich kaufe, kenne ich dann nicht nur den Preis, sondern auch den Fußabdruck

  • Jede BürgerIn weiß dann, wie schädlich oder idealerweise auch unschädlich, also nachhaltig, dieser Kauf ist

  • Es wird auf demokratischem Weg ein Budget pro Person (z.B. vielleicht erst 8 Tonnen/Jahr, dann schrittweise weniger) festgelegt, dass von uns nicht überschritten werden sollte

  • der Staat braucht dann nicht einzelne Sektoren zu regulieren und kann auf Verbote verzichten (z.B. Kurzstreckenflüge oder SUVs oder Gasheizungen usw.), weil ja die BürgerIn sich selber aussucht, wo sie einsparen und Lebensgewohnheiten ändern will

  • man kann dann auch leidige endlose pseudo-moralische Diskussionen weglassen: niemand kann oder muss sich mehr als Öko-Held oder Öko-Sünder empfinden: man kann ja in eindeutigen Zahlen nachweisen, dass man unter dem Grenzwert liegt (oder ihn eben leider noch überschreitet). Es würde sich z.B.zeigen, dass gut verdienende Grünen-Wähler mehr umweltschädigende Verhaltensweisen an den Tag legen als Menschen mit Niedriglöhnen, die sich selbst gar nicht für besonders "öko"halten

  • Klimagerechtigkeit würde entstehen: je wohlhabender ich bin, je mehr ich folglich konsumiere, desto mehr muss ich meine Lebensgewohnheiten ändern. Das ist besonders wichtig, weil das reichste Zehntel der Bevölkerung allein schon für die Hälfte der Umweltschäden verantwortlich ist. Wenn jemand, der 100 Tonnen CO2 jährlich emittiert, sein Verhalten nicht ändern will, warum sollte es dann der Durchschnittsmensch mit seinen ca 10 Tonnen tun wollen?

  • Wenn wir den armen Schwellen-und Entwicklungsländern noch einen gewissen Wohlstandszuwachs zubilligen wollen, ist es umso wichtiger, dass wir unsere Emissionen, unter deren Wirkungen schon länger besonders die armen Länder leiden, reduzieren

  • wir verändern den Fokus unserer gesellschaftlichen Wahrnehmungsweise: statt Geld, Profit,

  • Kapital, Vermögen, Einkommen rückt dann zunehmend die wirkliche Lebensgrundlage ins Blickfeld: die Natur mit allem, was sie an Lebensgrundlage für den Menschen bietet, damit dann auch die menschliche Natur selber

  • es wird shifting baselines geben, das heißt, wenn alle sich verändern sollen, können und wollen, sind ganz schnell neue Lebensgewohnheiten, neue Verhaltensmaßstäbe, neue Sozialformen, neue Erfahrungs- und Betätigungsfelder da

  • es gibt demokrtisch verhandelbare Spielräume für die Umsetzung dieses Konzepts: bleibt das Wissen um die Fußabdrücke individuell oder wird es irgendwie öffentlich erfasst? Wo liegen die Grenzwerte, wie verändern sie sich? Wie wird mit Überschreitungen oder chronischer Verweigerung umgegangen? Offene Fragen. Wer dabei Angst vor einer "Ökodiktatur" bekommt, dem sei gesagt: Vergleiche diesen Ansatz mit einer ansonsten unvermeidlichen Horrorvision einer Gesellschaft, in der bei über 3 Erwärmung soziale Kämpfe um die letzten Ressourcen wie z.B. Wasser ausbrechen und in der der Staat zwangsweise knapper werdende Naturgüter rationieren muss.

Download Konzept Öko Budget

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Dr. phil. Thomas Friedrichs, tfriedrichs@t-online.de

Wenn du Kommentare oder auch ergänzende Ideen zu diesem Konzept äußern willst, schreib Attac Krefeld oder auch persönlich an tfriedrichs@t-online.de

Degrowth-Kommunismus oder Barbarei, eine Buchbesprechung von Peter

Degrowth-Kommunismus oder Barbarei, eine Buchbesprechung von Peter

 

Systemsturz –eine neue Exitstrategie im ökosozialistischen Diskurs

 

Sozialismus oder Barbarei?

Rosa Luxemburg Die Krise der Sozialdemokratie

 

Der japanische Marxist Kohei Saito legt in seinem Bestseller Systemsturz eine neue, ungewöhnliche Variante von Kapitalismuskritik vor. Er bricht dabei auch radikal mit Ideen des grünen Kapitalismus, die unter den Lemmata Green New Deal, grünes Wachstum und Klima-Keynesianismus verhandelt werden. Hier, so meint er, kann die Rettung für den bevorstehenden Ökozid nicht liegen. Saito fordert nichts anderes als einen Degrowth-Kommunismus. Der Kapitalismus führt zwangsläufig in die Zangengriffkrise von Ökokollaps (Klimawandel, Naturzerstörung, Artensterben) und Ressourcenerschöpfung. Das Wachstums- und Konsumparadigma, vor allem im globalen Norden, ist aufzugeben. Postwachstum, so der Japaner völlig zu recht, kann es im Kapitalismus nicht geben. Viele Postwachstumstheoretiker*innen verharren jedoch bei einer Kritik am Konsumenten und deren konsumistischer Lebensweise. Eine „Suffizienzrevolution“ (Niko Paech) beim Verbraucher evoziert „nur“ eine individuelle Befreiung vom Überfluss, eine Lebensstiltransformation. Das ist mehr als nichts, aber nur der halbe Weg. Der Kapitalismus bleibt erhalten, allerdings in abgerüsteter Form. Saito will aber den Systemsturz. Saito (als Marxist konsequent) nimmt sich deshalb die Seite der Produktion vor. Das Herz des Kapitalismus. Und hier, das ist das Verblüffende, bezieht er sich in seiner Kritik am Produktivismus und Extraktivismus auf Marx. Dieser hat in seinen letzten Lebensjahren mit dem Produktivismus, also der Entfesselung der Produktivkräfte als Treiber zur sozialistischen Revolution, gebrochen und wurde Verfechter einer stationären Ökonomie. Zudem wurde Marx auf seine alten Tagen noch zum Ökologen, der den Raubbau an der Natur sehr kritisch betrachtet. Marx sah z.B. durch die industrielle (Chemikalien und Kraftfutter) Landwirtschaft den Stoffwechsel Mensch-Natur nachhaltig zerstört.

Mit dieser neuen Marx-Exegese1 will Saito die theoretische Grundlage für seinen Degrowth-Kommunismus legen. Er möchte auch eingefleischten Kommunisten und Kommunistinnen die Idee vom Postwachstum schmackhaft machen.

Nachdem er zunächst die bekannten Daten der Klimakrise rezipiert, die ökologischen Verwerfungen im Anthropozän aufzeigt, die Externalisierungsgesellschaft des globalen Nordens beschreibt (alles irgendwie bekannt, aber gut zusammengefasst), den Klima-Keynesianismus plus Geoengineering als systemrettende Variante verwirft, die These (der Grünen) von „intelligent wachsen“ als Augenwischerei beschreibt, kommt er über den späten Marx zu seinen fünf Säulen des Degrowth-Kommunismus (S.224ff.):

1. Wandel zu Gebrauchswirtschaft, weg von der Tauschwirtschaft

2. Verkürzung der Arbeitszeit, mehr Lebensqualität durch weniger Arbeit

3. Aufhebung uniformer Arbeitsteilung: Für die Wiederherstellung der Kreativität der Arbeit, weg vom Taylorismus

4. Demokratisierung des Produktionsprozesses2

5. Fokus auf systemrelevante Arbeit (Care-Arbeit, ergo Gesundheit, Pflege, Bildung), weg mit den Bullshit-Jobs (Werbung, Finanzen, Versicherungssektor); Wandel zur Gebrauchswertwirtschaft.

 

So weit, so gut. Alle 5 Punkte sind signifikante Bausteine für eine sozial-ökologische Transformation. Vollkommen richtig, wenn man marxistisch von der Produktionsseite her argumentiert. Hier muss angesetzt werden. Aber wie realistisch ist dieser Systemwechsel?

Saito bringt nun Beispiele für eine sich ankündigende Transformation. Zarte Pflänzchen in der kapitalistischen Wüste.

Zum Schluss wird das Ganze nun doch etwas dürftig. Er nennt die Stadt Barcelona, die den Klimanotstand ausgerufen hat (den hat Krefeld notabene auch) mit einem klimagerechten Sofortprogramm. Detroit als wegweisend für urban gardening. Grenoble, die das Schulessen in den Kantinen nun genossenschaftlich-kommunal durchführt und nicht privatwirtschaftlich und als „Überbau“ die Fearless Cities (mittlerweile 77 Städte) die, so Saito, „es mit dem Kapitalismus aufnehmen können“ und verschiedene Konzepte horizontaler Solidarität entworfen haben.

Und noch etwas mehr Hoffnung macht eine Zahl: 3,5.

Saito: „Deshalb möchte ich hier die Zahl der `3,5 Prozent` ins Spiel bringen. Laut einer Studie der Harvard-Politologin Erica Chenoweth kommt es zu großen gesellschaftlichen Umwälzungen, wenn 3,5 Prozent der Menschen gewaltlos (kursiv, P.H.) und entschlossen aufbegehren“. Dass dieser Parameter umstritten ist, braucht man nicht expressis verbis zu erwähnen. Einige soziale Bewegungen der Klimagerechtigkeitsbewegung beziehen sich allerdings auf diese Zahl3. Sei´s drum.

Fazit: Wir starteten beim marxistisch inspirierten „Systemsturz“ und am Ende landen wir bei den Fearless Cities und beim mathematischen Dreisatz.

Zum Abschluss meine Lieblingsstelle aus Systemsturz: „Sie wollen Gemeinderatsmitglied werden? Warum nicht! Für eine Umwelt-NGO aktiv zu sein, ist ebenfalls wichtig. Oder Sie gründen mit Gleichgesinnten ein bürgerverwaltetes Energieunternehmen. Und wenn Sie für Arbeitszeitverkürzung und die Demokratisierung der Produktion einstehen wollen, sind Sie bei einer Gewerkschaft bestens aufgehoben. Außerdem braucht man Menschen, die Unterschriften für die Ausrufung des Klimanotstands sammeln(…). Gehen wir es so an, entsteht ein Netzwerk der gegenseitigen Hilfe, reißfest und willensstark“ (S.276). Systemsturz? Na ja. Das könnte auch von Harald Welzer sein.

Tja, so sieht also der Systemsturz eines jungen Marxisten aus: gestartet als Tiger, gelandet als Bettvorleger.

 

Kohei Saito Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus.

dtv, 316 Seiten, 25 €

 

Dr.phil. Peter Häp

 

 

 

 

 

 

 

 

1 Saito bezieht sich bei seinem Degrowth-Kommunismus auf die 1870er bis 1880er Jahre bei Marx (Kritik des Gothaer Programms, Brief an Sassulitsch). Auf die Marx-Exegese von Saito kann hier nicht eingegangen werden. M.E. aber schlüssig interpretiert. Marx verwirft seine deterministische Geschichtsphilosophie und entwickelt zaghaft, über die Idee genossenschaftlicher Strukturen, eine Gesellschaftstheorie des Postkapitalismus und einer Degrowth-Ökonomie.

2 Je demokratischer der Produktionsprozess, desto langsamer die Wirtschaft. Eine etwas fragwürdige These. Nach dem Motto: viele Köche kochen den Brei zwar nicht schlecht, aber langsam.

3 In Deutschland wären dies 2,9 Millionen Bürger*innen (eigene Berechnung). Das sind doppelt soviel wie bei der größten Demo von FFF vor Corona auf die Straße gingen. Trotzdem eine realistische Zahl, die möglich wäre.

 

Gelesen und geschrieben - 50 Shades of Green

50 Shades of Green

 

Alexander Neupert-Doppler liefert eine Einführung in den Ökosozialismus

 

Anders als die Theorie des marxistischen Sozialismus gibt die Theorie des Öko-Sozialismus – des wissenschaftlichen Sozialismus für das 21.Jahrhundert - keine Garantie für sein Gelingen

Saral Sarkar Die nachhaltige Gesellschaft

 

Alexander Neupert-Doppler, Professor für Sozialphilosophie an der Hochschule Düsseldorf, wendet sich nach seiner Kairosphilosophie1 nun dem Ökosozialismus zu.

Er bedient sich dabei eines pfiffigen Kniffs: Die Geschichte des Ökosozialismus wird anhand von 50 Texten aus 50 Jahren dargestellt.

Das Buch bietet somit einen Überblick zur Theorie des Ökosozialismus und interpretiert in Kurzform Schlüsseltexte der Bewegung um einen grünen Sozialismus.

Seit den frühen 1970er Jahren (Startschuss war der Bericht des Club of Rome, Grenzen des Wachstums, 1972) diskutieren und debattieren Philosph*innen, Ökolog*innen, Feminist*innen, Sozialwissenschaftler*innen und Grüne über eine Utopie mit dem Rubrum Ökosozialismus. Neupert-Doppler meint auch zu recht „2022 ist ein gutes Jahr, um ein Buch über Ökosozialismus zu veröffentlichen“ (Neupert-Doppler, Ökosozialismus, 2022, S.15) und verweist auf den 50jährigen Geburtstag des Berichts des Club of Rome; zudem will er „den Ökosozialismus als Utopie verteidigen“ (ebd. S.9). Unter Utopie versteht der Autor, etwas allgemein,die Grundidee der Sozialutopie: das Erreichen individuellen Glücks durch die vernünftige Einrichtung von Gesellschaft. Oder anders: buen vivir, ein gutes Leben für alle in einer klassenlosen, naturbewahrenden Gesellschaft.Die zentrale Intention seines Buches Ökosozialismus folgt dem Grundgedanken: Eine Utopie mit dem Namen Ökosozialismus vorzustellen und sie unter der Trias Kritik/Vision/Transformation (Revolution) über ein halbes Jahrhundert an wichtigen Exponent*innen darzulegen. Ein erstes Problem ergibt sich allerdings schon in einer verbindlichen Definition von Ökosozialismus. Die gibt es nicht. M.E. kann man den Begriff in einer doppelten Negation verstehen: als Alternative zum unökologischen Kapitalismus (mit Wachstums- und Konsumzwang) wie zum unökologischen Staatssozialismus (Wachstumsplanwirtschaft). Auch Neupert-Doppler entzieht sich einer griffigen Definition; bei der Genese des Ismus-Begriffs Ökosozialismus verweist er auf den Politologen und FU-Professor Ossip Flechtheim.

Ökosozialismus befand sich dabei von der ersten Stunde an, so Neupert-Doppler, im Spannungsfeld zwischen einem libertären Lokalismus und Ökodiktatur, Beteiligung am Parlamentarismus oder ökosozialistischer Utopie, Revolution oder Transformation, subjektiver Lebensstiländerung oder staatlicher Ordnungspolitik, Nachhaltigkeit als kapitalistische Ideologie oder Brechung der „hedonistischen Lebensweise“ (Hans Jonas), Umbau der Industrie (Green New Deal) oder Rückbau, qualitatives Wachstum oder das „Märchen vom grünen Wachstum“ ( Bruno Kern).

Seit den Grenzen des Wachstums hat sich theoretisch (in unzähligen Büchern2, Texten, Manifesten, aber auch praktisch (Soziale Bewegungen von der Anti-Atomkraft-Bewegung bis zu FFF) viel ereignet. Eine kleine Retrospektive ist daher sicher sinnvoll um ins Dickicht der Diskurse eine Schneise zu schlagen.

 

 

Man kann nun hier nicht sämtliche Texte vorstellen und die Interpretation von Neupert-Doppler dazu bewerten.

Die ausgewählten Werke sind m.E. nach schlüssig und geben die Geschichte des heterogenen Phänomens Ökosozialismus sehr gut wieder. Die rund 200 Seiten sind sehr lesenswert, viele Originalzitate (kursiv gedruckt) sichern einen guten Eindruck der benutzten Quellen und man stößt auf neue, überraschende Erkenntnisse (z.B. Oskar Lafontaine war mal ein Ökosozialist und hat 1985 ein recht interessantes Buch mit dem Titel Der andere Fortschritt veröffentlicht). Tempi passati,kann man da nur konstatieren.

Neupert-Doppler nimmt in seine Hall of Fame der 50 „Meisterdenker*innen“ des Ökosozialismus nun so unterschiedliche Köpfe auf wie: Hans Jonas, Niko Paech, Carl Amery, Saral Sakar, Vandana Shiva, Oskar Lafontaine, John Bellamy Foster, Bruno Kern, Barbara Muraca, um nur einige wenige zu nennen; das zeigt schon die Spannweite und den Magnetismus einer Idee über viele Jahrzehnte hinweg.

 

Der Autor stellt jedem Dekadenkapitel ein Kopfzitat von Marx voran.

Ebenfalls kein schlechter Einfall, wird doch damit die sozialistische Perspektive im Ökologiediskurs herausgehoben. Oder um ein Wort von Max Horkheimer zu paraphrasieren: Wer vom Kapitalismus nicht reden will, soll von der Ökologie schweigen.

Denn schon Marx hat im Kapital (Bd.1), die Aussage getätigt: „Die kapitalistische Produktion (…) untergräbt zugleich die Springquellen alles Reichtums: die Erde und den Arbeiter“ (Das Kapital, Bd. 1,S. 529 f.). Zieht man beides zusammen: Erde und Arbeiter, ist man im Zentrum des Ökosozialismus angelangt.

Wie gesagt: die Debatte startete 1972 unter dem Zeichen eines gebrochenen Fortschrittsoptimismus und der ersten Kritik am fossilen Kapitalismus. Neupert-Doppler gibt seinem 1. Kapitel über die 1970er Jahre die Überschrift „Ökoanarchismus vs. Ökodiktatur?“.

Er steckt damit die ersten Positionen (von Bookchin über Amery bis Jonas/Harich) ab. Schon am Anfang zeigt sich hier ein Dilemma der ökosozialistischen Debatte, das bis heute ein Dauerbrenner des grünen Sozialismus ist: Libertärer Lokalismus ist bewundernswert (Bookchin), aber dem Weltökokollaps unangemessen, autoritärer Globalismus (Wolfgang Harich) ist verführerisch, lässt aber die Weltrepublik in den (autoritären)Weltstaat kippen. Heute evoziert sich das Dilemma an den Polen: subjektive Lebensstiltransformation oder staatlich Ordnungs- und Verbotspolitik; grün-liberale Marktwirtschaft oder ökologisch-demokratische Planwirtschaft. Geht man die Sache also von „unten“ an oder gleich von ganz „oben“.

Danach folgen die 1980er mit der Überschrift „Ökosozialismus im Parlament (Einwände des Ökofeminismus)?“. Hier kommen u.a. Rudolf Bahro, Oskar Lafontaine, Vandana Shiva und Janet Biehl zu Wort; Versuche einer Antwort auf das Problem „ein Planet wird geplündert“. Die 1990er (ganz im Zeichen der Umweltkonferenz von Rio) mit „Nachhaltigkeit statt Ökosozialismus?“ betitelt, werden nochmals mit Murray Bookchin, Elmar Altvater et al. dokumentiert. Die 2000er werden mit „Transformation statt Revolution?“ paraphrasiert. Diese Dekade impliziert u.a. Theoretiker*innen wie Saral Sakar und John Bellamy Foster. Danach werden die 2010er mit „System Change und/oder Postwachstum?“ mit Niko Paech, Bruno Kern und Barbara Muraca bewertet. Die ausgewählten Textpassagen der o.g. Protagonist*innen sind alle lesenswert und können hier nicht auf ihre Umsetzungsfähigkeit und politische Zielrichtung bewertet werden. Leser*innen sollten sich selbst ein Bild machen und sich ein Urteil bilden. Auch der Autor des Buches enthält sich einer eindeutigen Stellungnahme. Er fächert die Idee Ökosozialismus in all ihren Schattierungen auf, sieht sie als unverzichtbare Utopie für die Jetztzeit und zeigt: viele Wege führen nach Rom. Eine via regia gibt es für ihn nicht.

Es folgt zum Stand der Dinge, Jetztzeit also, das Abschlusskapitel „Ökosozialismus in einem Land? Stand der Debatte.“

 

 

Jedem Jahrzehnt werden auch wichtige sozio-poltische Ereignisse als Nährboden für den Ökosozialismus beigegeben, z.B. Einzug der Grünen in den Bundestag (1982), die Umweltkonferenz von Rio (1992), mit den neuen Schlüsseltermini „Nachhaltigkeit“ und „Globalisierung“, der G8-Gipfel in Genua (2001), Inauguration der Anti-Globalisierungsbewegung, die großen Degrowth-Konferenzen in Barcelona (2010) oder Leipzig (2014), die das Postwachstumstheorem wesentlich befeuerten. Ebenfalls: Die „Internationale ökosozialistische Erklärung“ von Belem/Brasilien (2008), ein Schlüsselmanifest des Ökosozialismus. Zudem die jährlich seit 2010 stattfindenden Klimacamps im Rheinland oder der Lausitz. All das ergibt eine gesellschaftliche Matrix für die ökosozialistische Ideengeschichte. Anhand dieser Ereignisse bildeten sich Bewegungen, Organisationen und Netzwerke, die u. a. Ökosozialismus als ihre theoretische Grundlage interpretieren, was der Autor (und auch der Rezensent) ausdrücklich begrüßt, ist doch „jeder Schritt wirklicher Bewegung wichtiger als ein Dutzend Programme“ (Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, S.13).

Auch wird die Einstellung der Grünen zum Ökosozialismus von ihrer Gründung 1980 bis heute dargelegt. Etwas zu umfangreich gerät allerdings die Darstellung der kritischen Abarbeitung Jutta Ditfurths an der Grünen Partei.

Zum Abschluss stellt der Autor noch einmal sein Utopiekonzept vor, welches er in einigen Werken zuvor bereits erarbeitet hat. Ein Schaubild am Ende von Ökosozialismus zeigt noch mal sehr anschaulich sein Utopiekonzept. Sein Fazit: „Verwirklichung von Utopien haben ihre eigene Zeitlogik: Mal scheint der Abstand zwischen Kritik und Utopie riesig, dann wiederum schaffen neue Konstellationen einen Kairos. Gelegenheiten ergreifen zu können setzt aber Vorbereitung voraus, den Aufbau von Organisationen. Nicht irgendwann, sondern heute“ (Neupert-Doppler 2022, S.200). Das gilt uneingeschränkt für den Ökosozialismus. Als konkrete Utopie braucht er viele Bündnispartner (von attac über den BUND bis zu einer noch im Embryostatus befindlichen Konsumverweigerungsbewegung) um die sozial-ökologische Transformation zu schaffen, denn „es genügt nicht, dass der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muss sich selbst zum Gedanken drängen“ (Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in Die Frühschriften, S.218).

Ob wir uns allerdings in einer wirklichen Kairos-Zeit befinden (wie der Autor glaubt), das sei dahingestellt. Es gibt einige Anzeichen dafür. Das beflügelt das „Nach-vorwärts-Träumen“ (Ernst Bloch, aus der Vorrede des Prinzip Hoffnung). Ob das alles in einer homogenen Organisationsform mündet, bleibt offen. Scheitern inbegriffen.

Man sollte z.B. die Klimaschutz- und Klimagerechtigkeitsbewegungen, die neue Lust am Frugalismus, die Renaissance bioethischer Debatten, die Wiederentdeckung und Thematisierung „imperialer Lebensweisen“ des globalen Nordens, „Klimakleber“ und Commons-Bewegung, FFF und „Ende Gelände“ als Kairos-Indikator nicht über-, aber auch nicht unterschätzen. Eine Gesamtalternativbewegung mit ökosozialistischem Impetus wäre sicherlich wünschenswert, Schnittmengen mit Gewerkschaften, den Kirchen, Parteien, NGOs (wie attac) sind von Vorteil und auszubauen.

Die ökosozialistische Wende braucht eine kulturelle Hegemonie. Eine Gesamtalternativbewegung (so heterogen sie auch sein mag) ist dabei ein wichtiger Katalysator.

 

Um mit einem ökosozialistischen Pionier zu sprechen (der in den Debatten leider allzu oft, auch vom besprochenen Autor Neupert-Doppler, vergessen wird): „sie ( Öko-Linke, P.H.) müssen erkennen, dass sie unverzichtbare Bestandteile der Gesamtalternativbewegung sind, Teile die sich nicht ausschließen und widersprechen, sondern ergänzen, denn die Fahrzeuge, die den neuen Kurs nehmen, stehen also breit. Sie bieten Platz und Arbeit für alle“ (Josef Beuys, Aufruf zur Alternative, Frankfurter Rundschau, 23.12.1978). „Wege aus einer kranken Gesellschaft“ (Erich Fromm) sind vorhanden. Wirklichkeit und Gedanke(n) kommen sich näher. Wege tun sich auf.

Ein Buch wie das von Alexander Neupert-Doppler ist dabei eine sehr brauchbare Straßenkarte. Aktivist*innen sollten sie nutzen.

 

Alexander Neupert-Doppler, Ökosozialismus. Eine Einführung, mandelbaum-Verlag, Berlin 2022

 

Dr. phil. Peter Häp, Krefeld, 31.03.2023

 

1 Kairos: Nach Aristoteles, für den der Kairos »das Gute in der Zeit« ist, ein optimales Zeitfenster, der günstige Moment, in dem die Zufälle der Gegenwart die Pläne der Vergangenheit im Hinblick auf eine beabsichtigte Zukunft stützen. S. Aristoteles, Nikomachische Ethik 1096 a, passim, Stuttgart 1987.

Wichtiger Begriff für Revolutionen oder gesellschaftliche Transformationen.

Die Frage stellt sich: befinden wir uns, was die sozial-ökologische Transformation angeht, diese ist zwingend ob der mannigfaltigen Problemlagen (Klimawandel, Naturzerstörung, Artensterben, Ressourcenerschöpfung), in einer Kairosphase?

2 Goldstandart über die theoretischen Debatten Postwachstum/Ökosozialismus von den 1970ern bis heute bietet das umfangreiche, sehr empfehlenswerte Buch von Frank Adler, Wachstumskritik, Postwachstum, Degrowth: Wegweiser aus der (kapitalistischen) Zivilisationskrise, München 2022

Gelesen und geschrieben - Systemsturz

Degrowth-Kommunismus oder Barbarei, eine Buchbesprechung von Peter

 

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Sozialismus oder Barbarei?

Rosa Luxemburg Die Krise der Sozialdemokratie

 

Der japanische Marxist Kohei Saito legt in seinem Bestseller Systemsturz eine neue, ungewöhnliche Variante von Kapitalismuskritik vor. Er bricht dabei auch radikal mit Ideen des grünen Kapitalismus, die unter den Lemmata Green New Deal, grünes Wachstum und Klima-Keynesianismus verhandelt werden. Hier, so meint er, kann die Rettung für den bevorstehenden Ökozid nicht liegen. Saito fordert nichts anderes als einen Degrowth-Kommunismus. Der Kapitalismus führt zwangsläufig in die Zangengriffkrise von Ökokollaps (Klimawandel, Naturzerstörung, Artensterben) und Ressourcenerschöpfung. Das Wachstums- und Konsumparadigma, vor allem im globalen Norden, ist aufzugeben. Postwachstum, so der Japaner völlig zu recht, kann es im Kapitalismus nicht geben. Viele Postwachstumstheoretiker*innen verharren jedoch bei einer Kritik am Konsumenten und deren konsumistischer Lebensweise. Eine „Suffizienzrevolution“ (Niko Paech) beim Verbraucher evoziert „nur“ eine individuelle Befreiung vom Überfluss, eine Lebensstiltransformation. Das ist mehr als nichts, aber nur der halbe Weg. Der Kapitalismus bleibt erhalten, allerdings in abgerüsteter Form. Saito will aber den Systemsturz. Saito (als Marxist konsequent) nimmt sich deshalb die Seite der Produktion vor. Das Herz des Kapitalismus. Und hier, das ist das Verblüffende, bezieht er sich in seiner Kritik am Produktivismus und Extraktivismus auf Marx. Dieser hat in seinen letzten Lebensjahren mit dem Produktivismus, also der Entfesselung der Produktivkräfte als Treiber zur sozialistischen Revolution, gebrochen und wurde Verfechter einer stationären Ökonomie. Zudem wurde Marx auf seine alten Tagen noch zum Ökologen, der den Raubbau an der Natur sehr kritisch betrachtet. Marx sah z.B. durch die industrielle (Chemikalien und Kraftfutter) Landwirtschaft den Stoffwechsel Mensch-Natur nachhaltig zerstört.

Mit dieser neuen Marx-Exegese1 will Saito die theoretische Grundlage für seinen Degrowth-Kommunismus legen. Er möchte auch eingefleischten Kommunisten und Kommunistinnen die Idee vom Postwachstum schmackhaft machen.

Nachdem er zunächst die bekannten Daten der Klimakrise rezipiert, die ökologischen Verwerfungen im Anthropozän aufzeigt, die Externalisierungsgesellschaft des globalen Nordens beschreibt (alles irgendwie bekannt, aber gut zusammengefasst), den Klima-Keynesianismus plus Geoengineering als systemrettende Variante verwirft, die These (der Grünen) von „intelligent wachsen“ als Augenwischerei beschreibt, kommt er über den späten Marx zu seinen fünf Säulen des Degrowth-Kommunismus (S.224ff.):

1. Wandel zu Gebrauchswirtschaft, weg von der Tauschwirtschaft

2. Verkürzung der Arbeitszeit, mehr Lebensqualität durch weniger Arbeit

3. Aufhebung uniformer Arbeitsteilung: Für die Wiederherstellung der Kreativität der Arbeit, weg vom Taylorismus

4. Demokratisierung des Produktionsprozesses2

5. Fokus auf systemrelevante Arbeit (Care-Arbeit, ergo Gesundheit, Pflege, Bildung), weg mit den Bullshit-Jobs (Werbung, Finanzen, Versicherungssektor); Wandel zur Gebrauchswertwirtschaft.

 

So weit, so gut. Alle 5 Punkte sind signifikante Bausteine für eine sozial-ökologische Transformation. Vollkommen richtig, wenn man marxistisch von der Produktionsseite her argumentiert. Hier muss angesetzt werden. Aber wie realistisch ist dieser Systemwechsel?

Saito bringt nun Beispiele für eine sich ankündigende Transformation. Zarte Pflänzchen in der kapitalistischen Wüste.

Zum Schluss wird das Ganze nun doch etwas dürftig. Er nennt die Stadt Barcelona, die den Klimanotstand ausgerufen hat (den hat Krefeld notabene auch) mit einem klimagerechten Sofortprogramm. Detroit als wegweisend für urban gardening. Grenoble, die das Schulessen in den Kantinen nun genossenschaftlich-kommunal durchführt und nicht privatwirtschaftlich und als „Überbau“ die Fearless Cities (mittlerweile 77 Städte) die, so Saito, „es mit dem Kapitalismus aufnehmen können“ und verschiedene Konzepte horizontaler Solidarität entworfen haben.

Und noch etwas mehr Hoffnung macht eine Zahl: 3,5.

Saito: „Deshalb möchte ich hier die Zahl der `3,5 Prozent` ins Spiel bringen. Laut einer Studie der Harvard-Politologin Erica Chenoweth kommt es zu großen gesellschaftlichen Umwälzungen, wenn 3,5 Prozent der Menschen gewaltlos (kursiv, P.H.) und entschlossen aufbegehren“. Dass dieser Parameter umstritten ist, braucht man nicht expressis verbis zu erwähnen. Einige soziale Bewegungen der Klimagerechtigkeitsbewegung beziehen sich allerdings auf diese Zahl3. Sei´s drum.

Fazit: Wir starteten beim marxistisch inspirierten „Systemsturz“ und am Ende landen wir bei den Fearless Cities und beim mathematischen Dreisatz.

Zum Abschluss meine Lieblingsstelle aus Systemsturz: „Sie wollen Gemeinderatsmitglied werden? Warum nicht! Für eine Umwelt-NGO aktiv zu sein, ist ebenfalls wichtig. Oder Sie gründen mit Gleichgesinnten ein bürgerverwaltetes Energieunternehmen. Und wenn Sie für Arbeitszeitverkürzung und die Demokratisierung der Produktion einstehen wollen, sind Sie bei einer Gewerkschaft bestens aufgehoben. Außerdem braucht man Menschen, die Unterschriften für die Ausrufung des Klimanotstands sammeln(…). Gehen wir es so an, entsteht ein Netzwerk der gegenseitigen Hilfe, reißfest und willensstark“ (S.276). Systemsturz? Na ja. Das könnte auch von Harald Welzer sein.

Tja, so sieht also der Systemsturz eines jungen Marxisten aus: gestartet als Tiger, gelandet als Bettvorleger.

 

Kohei Saito Systemsturz. Der Sieg der Natur über den Kapitalismus.

dtv, 316 Seiten, 25 €

 

Dr.phil. Peter Häp

 

 

 

 

 

 

 

 

1 Saito bezieht sich bei seinem Degrowth-Kommunismus auf die 1870er bis 1880er Jahre bei Marx (Kritik des Gothaer Programms, Brief an Sassulitsch). Auf die Marx-Exegese von Saito kann hier nicht eingegangen werden. M.E. aber schlüssig interpretiert. Marx verwirft seine deterministische Geschichtsphilosophie und entwickelt zaghaft, über die Idee genossenschaftlicher Strukturen, eine Gesellschaftstheorie des Postkapitalismus und einer Degrowth-Ökonomie.

2 Je demokratischer der Produktionsprozess, desto langsamer die Wirtschaft. Eine etwas fragwürdige These. Nach dem Motto: viele Köche kochen den Brei zwar nicht schlecht, aber langsam.

3 In Deutschland wären dies 2,9 Millionen Bürger*innen (eigene Berechnung). Das sind doppelt soviel wie bei der größten Demo von FFF vor Corona auf die Straße gingen. Trotzdem eine realistische Zahl, die möglich wäre.