Mietenwahnsinn geht weiter: Karlsruhe kippt den Berliner Mietendeckel
Jana Mattini und Thomas Fritz (AG Deprivatierung und PG Wohnen)
April 2021
Schockurteil für Millionen Mieter*innen: Am 15. April 2021 erklärte der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts den Berliner Mietendeckel rückwirkend für „nichtig“. Damit kippte das Gericht die bisher einzige wirksame Maßnahme gegen die exorbitanten Mietsteigerungen in deutschen Ballungsräumen. Hintergrund war eine Organklage der Bundestagsfraktionen von CDU und FDP. Weitere Verfassungsbeschwerden, wie die von privaten Vermieter*innen und vier Berliner Wohnungsgenossenschaften, wurden mit dem Urteil hinfällig.
Der im Februar 2020 vom rot-rot-grünen Berliner Senat in Kraft gesetzte Mietendeckel umfasste drei Elemente. Erstens wurden rückwirkend zum Stichtag 18. Juni 2019 die Bestandsmieten für fünf Jahre eingefroren, zweitens Mietobergrenzen festgesetzt und drittens überhöhte Mieten ab November 2020 abgesenkt. Ausgeklammert blieben preisgebundene und Sozialwohnungen sowie Neubauten, die ab Januar 2014 bezugsfertig geworden waren.
Das Karlsruher Urteil löste bei zahlreichen Expert*innen Kopfschütteln aus. Die Jurist*innen Selma Gather und Florian Rödl etwa betrachten es „als verfassungsrechtlich nicht vertretbar“. Obwohl das Wohnungswesen mit der Föderalismusreform 2006 in die Kompetenz der Länder überging, dürften die Länder keine öffentlich-rechtlichen Mietpreisregeln für frei finanzierte Wohnungen erlassen, so das Verfassungsgericht. Die Richter*innen haben also einfach Preisgrenzen aus dem Bereich des Wohnungswesens herausgeschnitten. Das aber betrachten Gather und Rödl aus folgendem Grund als falsch: „Der Gehalt von Kompetenztiteln kann nur durch förmliche Verfassungsänderung geändert werden.“ Eine Verfassungsänderung, die das Wohnungswesen um Preisgrenzen kürzt, hat es aber nie gegeben.
Doch das Urteil ist noch aus einem anderen Grund hoch problematisch. Die rückwirkende Nichtigkeit des Mietendeckels bedeutet nämlich, dass bis zu 500.000 Haushalten nicht nur Mieterhöhungen, sondern teils sehr hohe Nachzahlungen drohen. So wurde nach einer Schätzung des Berliner Senats allein bei 340.000 Haushalten die Miete aufgrund des Deckels abgesenkt, teils um mehrere Hundert Euro. 40.000 Haushalte könnten durch die Rückforderungen in Zahlungsschwierigkeiten geraten – mitten in der Coronakrise. Der Senat legte für die Betroffenen zwar einen Notfallfonds auf, der aber gewährt grundsätzlich nur zinslose Darlehen.
Dabei wäre ein solch unbarmherziges Urteil überhaupt nicht nötig gewesen, wie Gather und Rödl betonen. Zwar sei die rückwirkende Nichtigkeit der Regelfall bei verfassungswidrigen Gesetzen. Dennoch habe das Verfassungsgericht in der Vergangenheit auf eine Rückwirkung in vielen Fällen verzichtet, bei denen weit geringere potenzielle Folgeschäden zu erwarten waren. Das aber heißt auch: Das Urteil hat einen unübersehbaren Klassencharakter. Die für viele Betroffenen katastrophalen Folgen schlagartiger Mieterhöhungen mitsamt hoher Rückforderungen waren den Richter*innen schlicht egal. Rücksichtslosigkeit in roten Roben.
Die Mieter*innenbewegung aber steckt nicht auf. Noch am Tag des Urteils gingen 20.000 Menschen lautstark auf die Straße – mit Abstand und Maske. Ihre Forderung: Jetzt, wo das Berliner Gesetz gekippt wurde, muss eben ein bundesweiter Mietendeckel her. Tatsächlich ist dieser noch immer möglich. Denn die Karlsruher Richter*innen urteilten nicht über die Substanz des Mietendeckels, sondern verneinten lediglich die Kompetenz des Landes Berlin für den Erlass öffentlich-rechtlicher Mietpreisgrenzen.
Ein solcher Bundesdeckel könnte verschiedene Formen annehmen. Denkbar wäre etwa eine Ermächtigungsklausel, die es Ländern und Kommunen erlaubt, eigene Mietendeckel einzuführen, angepasst an die örtlichen Gegebenheiten. Wichtig wäre zudem: Ein Bundesdeckel müsste die drei zentralen Elemente erlauben, die auch in Berlin angewandt wurden: ein Mietenmoratorium, Obergrenzen und Absenkungen.
Eines dieser Elemente – das Moratorium – hat sich die im Frühjahr gestartete Kampagne „Mietenstopp“ auf die Fahnen geschrieben. Getragen u.a. vom Mieterbund, dem DGB und der Münchner Initiative „#ausspekuliert“ fordert die Kampagne, die Mieten bundesweit für sechs Jahre einzufrieren. Doch auch die anderen beiden Elemente – Preisobergrenzen und Absenkungen – bräuchte es für ein wirkungsvolles Gesetz. Was aber schon jetzt klar ist: Trotz des fatalen Karlsruher Urteils geht die Mieter*innenbewegung wieder in die Offensive.