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18. Oktober 2011 - Luz Maria de Stefano de Lenkait:

Die Reden vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen im vergangenen September und Überlegungen zur internationalen Politik geben Anlass zu einer ausführlichen Betrachtung, die in vier Teilen erfolgt. Hier Teil eins:

Reden vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen, New York, September 2011

Die Vereinten Nationen und Regionalorganisationen

Rechtsprinzip zur Vertragsauflösung
Kein Vertrag ist sakrosankt, kein Vertrag ist heilig. Auch nicht der NATO-Vertrag. Jeder Vertrag ist deshalb auflösbar, und zwar nach dem Rechtsprinzip: Verträge werden so gelöst, wie sie geschlossen werden. Kein Bündnis, kein internationaler Vertrag ist unwiderruflich. Zum Wesen von Verträgen, ganz gleich ob privat oder international, gehört ihre Auflösbarkeit.

Die faktische Möglichkeit, ja eventuell sogar die Pflicht einer rechtmäßigen Vertragsauflösung tritt gerade in Bezug auf die NATO-Organisation ein, da sich diese Organisation seit dem Washingtoner Abkommen (1949) von einem klar definierten regionalen transatlantischen Verteidigungsbündnis immer weiter entfernt hat und nicht nur die Grundlage der Charta der Vereinten Nationen (UN) in Frage stellt oder missachtet, sondern auch die Hauptaufgabe und das Ziel der Vereinten Nationen sogar verhindert, nämlich den Frieden zu sichern. Die NATO-Staaten hatten jedoch 1949 die UN-Charta als rechtlichen Rahmen verbindlich anerkannt und haben diese Anerkennung durch ihre bleibende UN-Mitgliedschaft erhärtet.

UN-Charta behält die Oberhand
Die UNO-Charta ist ein internationaler multilateraler Vertrag. Als solcher ist sie den Normen der Wiener Konvention von 1969 und des Vertragsrechts untergeordnet. Jedenfalls hat die UN-Charta einen speziellen Charakter, ähnlich der Staatsverfassung in Bezug auf die gewöhnlichen Gesetze auf nationaler Ebene, im innerstaatlichen Bereich. Dieser spezielle Charakter verleiht der UN-Charta einen konstitutionellen Rang mit überlegenem Wert über jeden anderen internationalen Vertrag. Die UN-Charta behält die Oberhand, steht über allen anderen internationalen Verträgen, also auch über dem NATO-Vertrag. (Art.103 der UN-Charta). Will die NATO das Monopolrecht der UNO in Frage stellen, welche Maßnahmen zur „Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit für erforderlich hält, begibt sich die NATO in einen Bereich, der rechtlich allein von der UNO bestimmt wird, das heißt, ein Bereich von dem sich die NATO wie jede andere regionale Organisation herauszuhalten hat. Vielmehr ist die NATO verpflichtet, sich jeder UN-Entscheidung unterzuordnen. 

Selbsttätige Vertragsänderung durch Praxis?
Als Regionalallianz räumt sich die NATO das Recht ein, sich mit allen über-regionalen Fragen militärischer und menschlicher Sicherheit zu befassen. 3 der 5 ständigen Mitgliedsstaaten des UN-Sicherheitsrats sind führende NATO-Staaten. Es sind diese Staaten, die die Funktion des Sicherheitsrat verhindern und pervertiert haben.
 
In der Zeit nach 1990 entwickelte die NATO eine politische Eigenständigkeit, die mit ihrer Unterordnung unter die Normen der Vereinten Nationen, die in der UN-Charta festgelegt sind und nur dort, nichts zu tun hat. Leider haben die Praxis leider und die Untätigkeit der UN diese  umherirrende Tendenz nicht gebremst. Im Gegenteil. Das Betätigungsfeld der NATO ist immer größer geworden und dadurch zeigt sich immer deutlicher die Inkompatibilität beider Organisationen. Hier entsteht eine berechtigte rechtliche Frage: Kann die Post-Praxis der Vertragsparteien den Vertrag ändern oder ihn modifizieren?

Die Wiener Konferenz 1969 verneint diese Möglichkeit, nämlich dass eine vertragsfremde geduldete Praxis von Vertragspartnern die vertraglichen Regelungen selbsttätig ändere. Sie lehnte diesen Vorschlag durch eine einfache Mehrheit ab. Mit einer Änderung oder einer Modifikation durch eine Post-Praxis könnten Verträge einer Verfassungskontrolle wie einer Vertragskontrolle entgleiten, also einer Kontrolle über die Erfüllung der über dem Vertrag stehenden Rechtsnormen und des Vertrages selbst. Es ginge um eine nicht genug konsolidierte Sache, die die Stabilität der Verträge und die fundamentalen Norm aushebeln könnte: pacta sunt servanda. Kurz: Unter dem aktuellen internationalen Rechts ist die Post-Praxis der Partnerstaaten eines Vertrags nicht genug, den Vertrag zu ändern, erst recht nicht, wenn solche Praktiken vertragsrechtswidrig sind, und das sind sie in jedem Fall, wenn sie gegen die über ihnen regierende Rechtsnormen verstoßen, im Falle der NATO-Vertragspartner, die Normen der UN-Charta.

Welche Freiheit will die NATO verteidigen?
Die zunehmende NATO-Eigenständigkeit hat mit einem regional-staatlichen Egoismus zu tun, der in der vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts nicht ohne Folgen bleiben wird. 28 UNO-Mitgliedsstaaten (=NATO-Mitglieder) beanspruchen als NATO-Staaten eine Sonderstellung, die im Widerspruch zu den Interessen der anderen 165 UNO Mitgliedsstaaten steht. Unklar bleibt immer noch, wer Freiheit und Sicherheit der NATO-Staaten ernsthaft bedrohen könnte. Die NATO reklamiert für sich Freiheit und Sicherheit zu verteidigen. Von welcher Freiheit ist die Rede?

Zur „Freiheit made in USA“ gehört, dass eine bestimmte Clique sich anmaßt, über die Unfreiheit anderer Menschen zu entscheiden und sich auch die „Freiheit“ nehmen, anderen Menschen das Leben zu nehmen, sie in den Tod zu schicken.

Die UN stärken
„Depreciation of fundamental moral values is the way to degradation of society. There can be no freedom without responsability and no democracy without self-restraint“. So hinweisend aufklärerisch sind die Worte vom russischen Außenminister, Sergej Lawrow, vor der UN-Vollversammlung (27.9.2011): „We mark the 65th anniversary of the Nürnberg Tribunal verdict. Political correctness and slogans of freedom of speech cannot serve as a cover... Russia will never forget the countless military crimes commited by Hitler and his associates in our land and throughout Europe during the years of the Nazi aggression“. Der russische Außenminister sieht die Notwendigkeit, die UN-Rolle zu stärken „preserving, naturally its interstate nature and immutability of its Charter principles. A fundamental element of the Organisation's renewal is the reform of its Security Council... The UN is in demand as never before. Together we will find the practical ways to effectively overcome the threats of the 21st. Century“.

Neue Weltverhältnisse
Die fortschreitende politische, wirtschaftliche und soziale Emanzipation der Regionen, die nicht zum euro-atlantischen Gebiet gehören, stellen heute neue Weltverhältnisse dar. Russland, China, Indien und andere regionale Mächte ringen um die Neuordnung der Welt. Amerika und die EU haben längst ihre historische Chance verspielt. Kein europäischer Politiker hat den Mut und das Format die Führung Europas zu übernehmen außer staatsmännische Persönlichkeiten, die in der aktuellen Politik nicht mehr aktiv sind.

Staatlich sanktioniertes Töten als NATO-Sicherheit
Was die „NATO-Sicherheit“ betrifft, hat man sich in den USA für den staatlich sanktionierten Mord  ein besonderes System ausgedacht, das angeblich unfehlbar ist. Niemand kann frei von historischer Belastung über das Rechtssystem eines anderen Staates urteilen. In den meisten Staaten der Welt hat man jedoch erkannt, dass das staatlich sanktionierte Töten eines Menschen die Gerechtigkeit überhaupt nicht befördert. Blutrache gehört nicht in die moderne Zeit.

US-Militärziel: Kein neuer US-Rivale
Die uneingeschränkte und geforderte Führungsrolle der Vereinigten Staaten in der NATO ist in den vergangenen Jahren verloren gegangen. Vor allem nach dem Libyen-Debakel verursacht die US-Führungsrolle eher die Spaltung der europäischen Länder. Obwohl NATO-Mitgliedstaaten „US-Exceptionalism“ akzeptierten, förderte das neo-konservative „Projekt-for-the-New-American-Century“ (PNAC) und seine Unterstützung von der Bush Jr. Regierung eine Entwicklung, mit deren schwerwiegenden Konsequenzen alle europäischen NATO Länder sich weiterhin auseinandersetzen müssen. Die „PNAC-Mentalität“ wurde parteiübergreifend von allen pre- und post-2001 US-Regierungen praktiziert und von Europa geduldet! Im Pentagon heißt es im Dokument „Defence Planning Guidance (18.2.1992) belegt, das erste US-militärische Ziel besteht darin, den „(Wieder) Aufstieg eines neuen Rivalen zu verhüten“.

Die innen- und außenpolitische Lage der USA hat zu vielen Veränderungen geführt, auch in den Beziehungen unter den NATO-Ländern. Es überrascht daher nicht, dass nur sechs NATO-Staaten sich aktiv an dem Libyen-Einsatz beteiligten und wichtige NATO-Länder im Irak abwesend waren. Die Frustration der USA über diese Entwicklung ist weitgehend bekannt.

Recht des Stärkeren für die USA aus Besitzverhältnissen
Die USA halten jedoch eisern an ihrer abartigen Gewohnheit fest. Das „Recht der Stärkeren“ regiert diesen Staat über alle Maße. Seine Anmaßung resultiert in erster Linie aus den Besitzverhältnissen. Ein Blick auf den militärischen Industriekomplex und die Finanzwelt sagt schon vieles. Dieser Staat maßt sich an, über Wohl und Wehe in der gesamten Welt zu entscheiden, seine Grundsätze als Leitmotiv in die ganze Welt zu tragen – auch mit Hilfe der Verbündeten der NATO. Daraus folgen keine gemeinsame Werte, keine „Kultur-Gemeinschaft“. Eher ihre Desintegration und der Zerfall aller menschlichen Werte durch die Brutalisierung des Menschen und seine Verwandlung in eine aggressive Bestie. Welche Zukunft ist daraus abzuleiten?

Luz María De Stéfano Zuloaga de Lenkait

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