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Gedächtnisfeier der VVN-BDA zum Gedenken an die Opfer des Naziregimes

Seit Jahr und Tag nimmt auch Attac Reutlingen an der jährlichen Gedächtnisfeier der VVN-BDA (Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes - Bund der AntifaschistInnen) zum Gedenken an die Opfer des Nazi-Regimes teil.

Da es uns hierbei um eine sehr grundsätzliche Positionierung gegenüber den nach wie vor in unserer Gesellschaft vorhandenen rechten, rassistischen und totalitären Tendenzen geht, möchten wir hier an dieser Stelle unsere Beiträge publizieren.

Gedächtnisfeier der VVN-BDA am 23.11.2008

Redebeitrag von Antonia Knapp für Attac Reutlingen

 

Als ich in den letzten Tagen in den Zitatsammlungen im Internet unter dem Stichwort ‚Meinungsfreiheit’ nach einer griffigen kämpferischen Parole aus der europäischen Kulturgeschichte gesucht habe, bin ich auf den Philosophen und Dichter Voltaire gestoßen. Vom Monitor lächelte mir sein Porträtstich entgegen und er schien mir, Herrn Oettinger, Herrn Rech und Herrn Professor Goll zuzurufen:

„Ich mag verdammen, was Du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass Du es sagen darfst!“

Anders als viele der Frauen und Männer derer wir heute gedenken, müssen wir nicht um unser Leben fürchten, riskieren keine Folter oder tödliche Lagerarbeit, wenn wir uns öffentlich kritisch und kontrovers zu politischen, sozialen oder kulturellen Fragen äußern.

Auch Verbannung oder ein gehetztes Leben auf der Flucht drohen uns kaum, – anders als dem streitbaren Vielschreiber Voltaire im gewaltherrlichen 18. Jahrhundert.

Dennoch, wenn wir uns in gesellschaftliche Auseinandersetzungen einmischen, gemeinsam eine solidarische, friedliche, ökologische, demokratische und humane Welt gestalten wollen, müssen wir zunehmend befürchten, als lästige, gemeingefährliche Störenfriede, fehlgesteuerte Chaoten, Verfassungsfeinde oder Verbrecher abgestempelt zu werden.

Der Regierungsentwurf für das neue baden-württembergische Versammlungsgesetz und das neue BKA-Gesetz eröffnen den – letztlich allein von der Bürgergesellschaft legitimierten – Behörden und Regierungsorganen diverse Möglichkeiten, politisch interessierte und engagierte Bürger und Einwohner zu kontrollieren, zu schikanieren und zu kriminalisieren.

Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, das Fernmeldegeheimnis, die Unverletzlichkeit unseres privaten Lebensbereichs und der Schutz persönlicher Daten bleiben weitgehend auf der Strecke; sind wir von heimlichen Überwachungsmaßnahmen betroffen, können wir nicht einmal mehr unseren Anspruch auf Rechtsschutz geltend machen, denn der ahnungslos Ausspionierte weiß nicht, dass er entwürdigenden Grundrechtsverletzungen ausgesetzt ist und eilig den – ebenfalls grundgesetzlich vorgezeichneten – Rechtsweg beschreiten sollte.

Diese äußerst groben Gesetzeswerkzeuge mit ihren wenig präzisen Formulierungen eignen sich also hervorragend eine gesamtgesellschaftlich wirksame diffuse Angst zu erzeugen.

Dennoch – oder vielmehr: gerade deshalb dürfen wir nicht zulassen, dass öffentliche Debatten unterbunden werden, während politische Entscheidungen ganz selbstverständlich für kapitalistische Profitinteressen instrumentalisiert werden, – ungeachtet ihrer sozialen, ökologischen und kulturellen Folgen.

Wir sollten uns solidarisch zeigen, wenn engagierte, mitfühlende oder bedrängte Montagsdemonstranten misstrauisch beäugt und pauschal verdächtigt werden, während soziale Härten und Ungerechtigkeiten zunehmen.

Wir dürfen uns Protest nicht verbieten lassen, wenn fremdenfeindliche, antisemitische oder homophobe Stimmen laut werden.

Wenn der Schutz unserer Freiheitsrechte untergraben wird, müssen wir uns wehren.

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes wollten mit ihrer Arbeit auch verhindern, dass Verbrechen, wie die, an die wir uns heute erinnern, wieder begangen werden können.

Die Frauen und Männer, derer wir heute gedenken, wollten sicher nicht nur als gedemütigte, ohnmächtige, verängstigte Opfer in Erinnerung bleiben.
Viele von ihnen waren aufmerksame Beobachter des Zeitgeschehens, kritisch denkende, gesellschaftlich engagierte oder schöpferisch tätige Menschen.

Wir, hier und heute, sollten uns nicht einschüchtern, sondern anregen lassen, hoffnungsfrohe, angstfreie Diskussionen zu führen und menschenfreundliche, zukunftsweisende, durchaus auch querköpfige Projekte zu entwickeln.

Denn, wie Carl von Ossietzky einmal geschrieben hat, bevor er zum Torfstechen gezwungen und in Krankheit und Tod getrieben wurde:

„Man kann nicht kämpfen, wenn die Hosen voller sind als das Herz."