19. Januar 2018 - Ha'aretz, Zeev Sternhell:
Christoph Habermann, 21. Februar 2018
Übersetzung des Namensartikels von Zeev Sternhell, Historiker und Mitglied der Israelischen Akademie für Natur- und Geisteswissenschaften, Professor an der Hebräischen Universität Jerusalem, Spezialist für die Geschichte des Faschismus in „Le Monde“ vom 20. Februar 2018
Angesichts der Auswüchse des israelischen Nationalismus wagt sich der auf Faschismus spezialisierte Historiker an einen Vergleich zwischen dem Schicksal der Juden unter den Nazis vor dem zweiten Weltkrieg und dem der Palästinenser heute in Israel.
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„In Israel wächst ein Rassismus nah am Nazismus zu seinen Anfängen"
Ich bin manchmal versucht mir vorzustellen, wie der Historiker, der in hundert Jahren leben wird, versuchen wird, unsere Epoche zu erklären. In welchem Moment, wird er sich ohne Zweifel fragen, hat man in Israel begonnen zu verstehen, dass dieses Land, zum Staat geworden durch den Unabhängigkeitskrieg von 1948, gegründet auf den Ruinen des europäischen Judentums und auf Kosten des Bluts von 1 Prozent seiner Bevölkerung, darunter tausende von Kämpfern, die die Shoah überlebt haben, für die Nicht-Juden, die es beherrscht, zu einem Monster geworden ist? Wann genau haben die Israelis begriffen, dass ihre Unbarmherzigkeit gegenüber den Nicht-Juden unter ihrem Einfluss in den besetzten Gebieten, ihre Entschlossenheit, die Hoffnungen der Palestinenser auf Unabhängigkeit zu zerschlagen und ihre Weigerung, afrikanischen Flüchtlingen Asyl zu gewähren, die moralische Legitimität ihrer nationalen Existenz zu untergraben begannen?
Die Antwort, wird der Historiker vielleicht sagen, findet sich im Mikrokosmos der Ideen und der Taten zweier bedeutender Abgeordneter der Mehrheit, Miki Zohar (Likud) und Bezalel Smotrich (Jüdisches Heim), treue Vertreter der Regierungspolitik, die vor kurzem ganz vorne auf die politische Bühne katapultiert worden sind. Noch wichtiger ist aber, dass genau diese Ideologie die Basis "grundlegender" (verfassungsändernder) Vorschläge ist, die die Justizministerin, Ayelet Shaked, mit Zustimmung des Premierministers Benjamin Netanjahu, von der Knesset schnell beschliessen lassen will.
Shaked, Nummer 2 der Partei der religiös-nationalistischen Rechten, vertritt neben ihrem extremen Nationalismus eine politische Ideologie, derzufolge ein Wahlsieg die Inbesitznahme des Staates und des gesellschaftlichen Lebens rechtfertigt. Im Geiste dieser Rechten ist die liberale Demokratie nichts als ein Infantilismus. Man erfasst die Tragweite eines solchen Ansatzes leicht für ein Land britischer Tradition, das keine geschrie ene Verfassung besitzt, nur Verhaltensregeln und einen rechtlichen Rahmen, den eine einfache Mehrheit ändern kann.
Das wichtigste Element dieser neuen Rechtslehre ist eine Gesetzgebung, genannt "Gesetz über den Nationalstaat": Es handelt sich um einen nationalistischen Verfassungsakt, den der Nationalismus von Maurras seinerzeit nicht verleugnet hätte, den Frau Le Pen nicht vorzuschlagen wagte und den der polnische und ungarische Nationalismus mit Freude begrüssen würde.Da sind also die Juden, die vergessen, dass ihr Schicksal seit der Revolution von 1789 an Liberalismus und Menschenrechte gebunden ist, und die einen Nationalismus hervorbringen, in dem sich die härtesten Chauvinisten Europas wieder erkennen.
Dieses Gesetz hat nämlich das Ziel, die universellen Werte der Aufklärung, des Liberalismus und der Menschenrechte den partikularen Werten des jüdischen Nationalismus zu unterwerfen. Es wird den Obersten Gerichtshof - dessen Prärogativen Shaked beschneiden und dessen traditionell liberalen Charakter sie zerstören will - zwingen, Entscheidungen nach Buchstaben und Geist der neuen Gesetzgebung zu treffen. Die Ministerin geht aber noch weiter: Sie hat gerade erklärt, dass die Menschenrechte sich werden beugen müssen vor der Notwendigkeit, eine jüdische Mehrheit zu sichern. Weil dieser Mehrheit in Israel, wo 80 Prozent der Bevölkerung jüdisch sind, keine Gefahr droht, geht es dabei darum, die Öffentlichkeit auf die neue Situation vorzubereiten, die eintreten wird für den Fall der von der Partei der Ministerin befürworteten Annexion der besetzten palästinensischen Gebiete: Die nicht-jüdische Bevölkerung hätte kein Wahlrecht.
Die Ohnmacht der Linken
Wegen der Ohnmacht der Linken wird diese Gesetzgebung der erste Sargnagel des alten Israel sein, von dem nur die Unabhängigkeitserklärung wie ein Museumsstück übrig bleiben wird, das künftige Generationen daran erinnern wird, was unser Land hätte sein können, wenn unsere Gesellschaft nicht während eines halben Jahrhunderts von Besatzung, Kolonisierung und Apartheid in den 1967 eroberten Gebieten, die seither von 300.000 Siedlern besetzt sind, moralisch verrottet wäre. Heute ist die Linke nicht mehr in der Lage sich einem Nationalismus entgegen zu stellen, dem es in seiner europäischn Variante, sehr viel extremer als die unsrige, fast gelungen wäre, die europäischen Juden zu vernichten. Deshalb sollte man überall in Israel und in der jüdischen Welt die beiden Gespräche lesen, die Ravit Hecht für Haaretz (3. Dezember 2016 und 28. Oktober 2017) mit Smotrich und Zohar geführt hat. Man sieht da, wie unter unseren Augen kein einfacher lokaler Faschismus entsteht, sondern ein Rassismus nahe am Nazismus zu einen Anfängen.
Wie jede Ideologie hatte sich auch der deutsche Rassismus entwickelt: Am Anfang hat er die Juden angegriffen durch die Verletzung der Menschen- und Bürgerrechte. Ohne den zweiten Weltkrieg hätte sich das "jüdische Problem" möglicherweise durch eine "freiwillige" Auswanderung der Juden aus Gebieten unter deutscer Kontrolle gelöst. Letztendlich konnten fast alle Juden aus Deutschland und Österreich rechtzeitig weggehen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass manche auf der Rechten den Palästinenser das gleiche Schicksal bereiten wollen. Die Gelegenheit müsste da sein, zum Beispiel ein guter Krieg, zusammen mit einer Revolution in Jordanien, die es erlaubte, einen grossen Teil der Einwohner der besetzten Westbank nach Osten zu schieben.
Das Schreckgespenst der Apartheid
Die Smotrich und Zohar haben nicht die Absicht, die Palästinenser körperlich anzugreifen, selbstverständlich unter der Bedingung, dass diese die jüdische Hegemonie widerstandslos hinnehmen. Sie lehnen es bloss ab, ihre Menschenrechte anzuerkennen, ihr Recht auf Freiheit und Unabhängigkeit. Schon jetzt kündigen sie und ihre Parteien für den Fall der offiziellen Annexion der besetzten Gebiete an, dass sie den Palästinensern die israelische Staatsangehörigkeit verweigern werden, einschliesslich des Wahlrechts. Für die Mehrheit, die an der Macht ist, sind die Palästinenser auf ewig verdammt zum Status von Arbeitskräften.
Das hat einen einfachen Grund.: Die Araber sind nicht jüdisch, deshalb haben sie kein Recht Anspruch zu erheben auf das Eigentum irgendeines Teils des gelobten Landes des jüdischen Volks. Für Smotrich, Shaked und Zohar, ist ein Jude aus Brooklyn, der vielleicht noch nie einen Fuss auf dieses Land gesetzt hat, sein rechtmässiger Eigentümer, während der Araber, der dort geboren ist, wie seine Vorfahren, ein Fremder ist, dessen Anwesenheit ausschliesslich dank des guten Willens der Juden und ihrer Menschlichkeit hingenommen wird. Der Palästinenser, sagt uns Zohar, „hat nicht das Recht auf Selbstbestimmung, weil ihm der Boden nicht gehört. Ich will ihn als Bewohner, weil ich anständig bin, er ist ja hier geboren, er lebt hier, ich werde ihn nicht auffordern zu gehen. Es tut mir leid es zu sagen, aber (die Palästinenser) leiden unter einem sehr grossen Mangel: Sie sind nicht als Juden geboren.
Selbst wenn die Palästinenser sich entschlössen, zu konvertieren, begännen Tora und Talmud zu studieren, würde es ihnen deshalb nichts nützen. Genauso wenig wie den Sudanesen oder Eritreern und ihren Kindern, die in jeder Hinsicht israelisch sind. So war es auch bei den Nazis. Anschliessend kommt die Apartheid, die nach Auffassung der meisten "Denker" der Rechten für die Araber gelten soll, die seit Gründung des Staates israelische Bürger sind. Zu unserem Unglück wählen viele Israelis, die sich für so viele ihrer Abgeordneten schämen, aus Gründen aller Art weiter die Rechte.