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27. August 2014 - Eckhard Stratmann-Mertens (attac Bochum):

Sanktionen gegen den Staat Israel – Widerstand gegen Antisemitismus
Zu der „Erklärung aus dem Wissenschaftlichen Beirat von Attac“
zum Nahostkonflikt vom 4.8.2014
und der bevorstehenden Kundgebung des Zentralrates der Juden
am Brandenburger Tor am 14.9.2014

Am 4.8.2014 veröffentlichten 40 prominente Mitglieder des Wissenschaftlichen Beirats von Attac eine Erklärung zum aktuellen Krieg zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen (#1). Es ist verwunderlich, dass – soweit ich sehe – diese Erklärung in Attac bisher unkommentiert geblieben ist, obwohl sie politische Schwachstellen aufweist.

Zunächst: Ich stimme der politischen Lageeinschätzung in dieser Erklärung zum Israel-Palästina-Konflikt und zum aktuellen Gaza-Krieg zwischen der Hamas und Israel zu. Zu Recht wird die Völkerrechtswidrigkeit und Sinnlosigkeit des Raketenbeschusses der Hamas auf Zivilisten in Israel kritisiert und von der Hamas die Anerkennung des Existenzrechtes von Israel sowie ein Gewaltverzicht in der Politik gegenüber Israel verlangt. Die Distanzierung von der Hamas hätte durch den Verweis auf ihre weiterhin gültige Gründungscharta aus dem Jahre 1988, die zutiefst von Judenfeindlichkeit durchdrungen ist, noch deutlicher werden können. Auf der anderen Seite wird sehr klar die Verantwortung der israelischen Regierung für die Friedlosigkeit im Verhältnis zu Palästina betont (Mauerbau, Siedlungspolitik, Blockade des Gazastreifens, Expansionsdrang über die Grenzen von 1967 hinaus). Es werden zur Lösung des Konfliktes wichtige Forderung wiederholt, wie sie seit Jahrzehnten formuliert wurden (u.a. Zweistaatenlösung, Rückkehrrecht der palästinensischen Flüchtlinge). Schließlich wird aber angesichts der konstatierten dauerhaften Weigerung des Staates Israel, sich auf wirkliche Friedensverhandlungen mit den Palästinensern einzulassen, nicht etwa eine politische Handlungsperspektive aufgezeigt, statt dessen um Spenden an medico international gebeten (was hier nicht verunglimpft werden soll).

Die Erklärung aus dem Wissenschaftlichen Beirat bleibt politisch zahnlos, da sie sich nicht auf die aktuelle innenpolitische Auseinandersetzung zum Gaza-Krieg einlässt und die Problematik des wieder offen zutage getretenen Antisemitismus und der Gegenwehr des Zentralrats der Juden übergeht. Dabei ist es für Attac und die Friedensbewegung dringend erforderlich, sich auf die Großkundgebung des Zentralrates der Juden am Brandenburger Tor am 14. September unter dem Motto „Steh auf! Nie wieder Judenhass!“ einzustellen und vorzubereiten. Als RednerInnen werden dort u.a. auftreten: Angela Merkel, Dr. Graumann als Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ronald S. Lauder als Präsident des Jüdischen Weltkongresses (WJC), der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, sowie der EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider.

Was ist auf dieser Kundgebung zu erwarten?

Vordergründig geht es um die Thematisierung der jüngsten antisemitischen Ausschreitungen im Zusammenhang mit Demonstrationen gegen die Bombardierung des Gaza-Streifens durch Israel. Was diese Ausschreitungen anbetrifft (Aufrufe zu Judenhass und Judenvernichtung, Bedrohung und Übergriffe gegen Juden, Brandanschlag auf die Synagoge in Wuppertal u.a.), so ist die Empörung dagegen zwingend notwendig. Jede/r einzelne Demonstrant/in gegen den Bombenkrieg Israels sollte in seinem Umfeld allen solchen judenfeindlichen Aktivitäten ins Wort bzw. in den Arm fallen, auch wenn dies Zivilcourage erfordert. Und Polizei und Justiz müssen in Zukunft bei solchen Anlässen scharf durchgreifen.

Dennoch ist offenkundig, dass die Repräsentanten der Juden in Deutschland in ihren Reaktionen auf die neuerlichen antisemitischen Angriffe diese enorm aufblähen: „Antisemitismus, zumal unter dem Mantel des Antizionismus, ist wieder salonfähig, sozial adäquat – Mainstream“, so Charlotte Knobloch, ehemalige Präsidentin des Zentralrates der Juden und heute Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde in München und Oberbayern, in ihrer Rede auf der Kundgebung ihrer Kultusgemeinde am 29.7.2014 in München. (#2)
Ebenso offenkundig ist, dass der Zentralrat der Juden die Empörung gegen den Antisemitismus von Neonazis und islamistischen Gruppierungen missbraucht, um seine Unterstützung für die Kriegshandlungen Israels gegen die Bevölkerung im Gaza zu demonstrieren. So verlautbart Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, auf der Webseite des Zentralrates (am 21.7.2014) angesichts der „schockierende[n] Explosion von Antisemitismus in diesem Land“ und der Raketenangriffe der „Terroristen der Hamas“: „Die allermeisten von uns stehen aber fest an der Seite unserer Brüder und Schwestern in Israel. Wir sind überzeugt: Israel muss sich wehren.“

In die gleiche Richtung einer Propagandaveranstaltung für Israel wies das zentrale Banner der o.g. Kundgebung in München: „Wehret den Anfängen! Kundgebung gegen Antisemitismus und Antizionismus“. Und in diesem Sinne verdeutlichte Frau Knobloch in ihrer Rede: „Wir Juden sind solidarisch mit Israel... Wir unterstützen jenes Land, das stellvertretend für die freie Welt deren Werte gegen den barbarischen Terror verteidigt.“ (Quelle: s.o.) Diese Heuchelei ist angesichts des gleichzeitigen Raketenterrors Israels gegen die Bevölkerung in Gaza und des fortgesetzten Landraubs im Westjordanland und in Ost-Jerusalem kaum zu überbieten.

Auch der geplante Auftritt des Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses, Ronald Lauder, auf der Großkundgebung in Berlin wird in das gleiche Horn stoßen; während des Bombardements von Gaza, Mitte Juli,  stattete er mit einer 78-köpfigen Delegation des Jüdischen Weltkongresses Israel einen „Solidaritätsbesuch“ ab, bei dem er der „Gegenwehr“ Israels seine Unterstützung versicherte (s. Jüdische Allgemeine v. 18.7.2014).

Die politische Auseinandersetzung mit dem Zentralrat der Juden und dem Jüdischen Weltkongress sollte offensiv erfolgen, da beide sich hinsichtlich ihrer Haltung gegenüber der israelischen Palästinapolitik als verlängerter Arm der israelischen Regierung gerieren. Hierzu passt die einstige Abberufung von Rolf Verleger aus dem Direktorium des Zentralrats der Juden im Jahr 2009, nachdem er 2006 die militärischen Maßnahmen Israels im israelisch-libanesischen Krieg und die Israel-loyale Haltung des Zentralrates kritisiert hatte.  

Der Vorwurf des Antisemitismus wird dann nicht lange auf sich warten lassen, wenn man beiden Organisationen mit deutlicher Kritik begegnet. Aber der Vorwurf des Antisemitismus und die Indienstnahme des Holocaust für die Interessen der israelischen Regierung sind seit langem schon ein Einschüchterungsinstrument gegenüber missliebiger Kritik an Israel, insbesondere aus Deutschland. (Vgl. dazu: Moshe Zuckermann, „Antisemit!“ Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument, Wien 2010)

Auch die Rolle von Angela Merkel bei dieser Kundgebung ist absehbar: Neben ein paar - wie immer unverbindlich bleibenden - kritischen Worten zur israelischen Siedlungspolitik wird sie ihre Doktrin von der Sicherheit Israels als Teil der Staatsräson Deutschlands intonieren.

Das Problem dieser gleichsam staatsreligiösen Überhöhung der historischen Verantwortung Deutschlands für Israels Sicherheit besteht darin, dass der Begriff „Sicherheit Israels“ für jede Interpretation offen gehalten wird: sei es die Verteidigung des Existenzrechtes Israels, das mit Recht für eine deutsche Regierung nicht verhandelbar ist, sei es aber auch der Bombenterror Israels auf Gaza mit weit mehr als zweitausend Todesopfern, hauptsächlich unter Zivilisten, und der weitreichenden Zerstörung von ziviler Infrastruktur als angebliche Verteidigung gegen den Raketenterror der Hamas auf Israel mit bisher vier zivilen Todesopfern. In der wechselseitigen Bedrohungsspirale von Hamas und Israel, in der auch die Hamas eine eskalierende Rolle spielt, kann dennoch nicht die asymmetrische Verantwortung Israels für die Gesamtkonfliktlage übersehen werden.

Wie kann/soll Attac sich zu der Großkundgebung des Zentralrates verhalten?

Ein Schweigen wäre ein Wegducken vor dieser Veranstaltung, die gerade wegen der Örtlichkeit am Brandenburger Tor und in unmittelbarer Nähe zum Holocaust-Mahnmal eine große, auch internationale Aufmerksamkeit erregen dürfte. Eine Gegenkundgebung gegen die Vereinnahmung des Protestes gegen Antisemitismus für eine pro-israelische Propaganda-kundgebung wäre zu missverständlich, als wäre der Protest gegen jede Form von Antisemitismus nicht auch ein fundamentales Anliegen von Attac.

Vielleicht wäre eine eigenständige Kundgebung von Attac mit anderen Organisationen der Friedensbewegung, auch aus Israel und Palästina, einen Tag zuvor (Samstag, den 13.9.) in Berlin, eventuell am gleichen Ort, sinnvoll: Gegen Antisemitismus und für Frieden zwischen Israel und Palästina im Sinne der Erklärung des Wissenschaftlichen Beirats, allerdings zugespitzt mit Forderungen vor allem an die Adresse Israels. Denn es ist vor allem die Regierung Israels, die zwar ein Interesse an „Ruhe an der Front“ hat, aber kein Interesse an einem Frieden mit den Palästinensern im Sinne einer Zwei-Staaten-Lösung, die nämlich eine Aufgabe der besetzten Gebiete (Golan, Ostjerusalem, Westjordanland) und der jüdischen Siedlungen mit sich brächte. Da kritische Äußerungen der westlichen Regierungen gegenüber der Politik Israels offenkundig an dieser abprallen, sollten die mantrahaft wiederholten Solidaritätsadressen der Verbündeten mit Israel aufgekündigt werden und Sanktionen gegen Israel verhängt werden, solange sich seine Regierungen über das Völkerrecht und das Recht der Palästinenser hinwegsetzen.

Politisch innovativ wäre es, wenn die Forderung nach internationalen Sanktionen und Boykotten gegen Israel, wie sie verschiedentlich und oftmals nur vorsichtig formuliert wird, laut und vernehmlich ausgesprochen wird. Attac sollte sich an der internationalen zivilgesellschaftlichen BDS-Kampagne (Boykott, Desinvestment und Sanktionen) gegen Israel beteiligen; schon 2009 hatte das Weltsozialforum zu dieser Kampagne aufgerufen. Dabei kommt es darauf an, das mögliche Instrumentarium von Sanktionen hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit zu diskutieren: Militärembargo gegen Israel, Ausweitung des Kooperationsverbots der EU gegenüber israelischen Institutionen und Unternehmen im Westjordanland auf Israel selbst, Aussetzung des Assoziierungsabkommens der EU mit Israel,  Sanktionen bei wissenschaftlich-technologischen Forschungsprogrammen der EU u.a.

Dem Raketenbeschuss der Hamas auf Israel könnte der Boden entzogen werden, indem die UNO garantiert, dass die Blockade Gazas durch Israel aufgehoben wird, z.B. durch einen von der UN finanzierten (Geberkonferenz) Bau eines See- und eines Flughafens für Gaza, die solange unter UN-Kontrolle bleiben und gegenüber einer potentiellen Zerstörung seitens Israel durch ein robustes Mandat der UN gesichert werden, bis eine Zwei-Staaten-Lösung zwischen Israel und Palästina vereinbart ist. Die Inbetriebnahme und der Betrieb von See- und Flughafen könnte davon abhängig gemacht werden, dass Angriffe von Gaza-Seite auf Israel unterbleiben.

Eckhard Stratmann-Mertens,
Attac-Mitglied Bochum
Ex-MdB Die GRÜNEN

27.8.2014,
am Tag 1 nach dem vorerst letzten Waffenstillstand zwischen Israel und Hamas


#1: Erklärung aus dem Wissenschaftlichen Beirat von attac

#2: Rede von Charlotte Knobloch