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18. April 2022 Claus Kittsteiner.

(Redetext am Ostermontag in Bregenz, Redeverlauf entsprechend der vorhandenen Redezeit vor Ort)

Hallo miteinander,

ich bin Claus Kittsteiner vom Verein Friedensregion Bodensee, ich freue mich, dass wir hier beim Bodensee- Friedensweg in Bregenz bei diesem schönen Wetter in friedlicher Atmosphäre zusammen sein können.
Wir, wer sind wir? Nach den Äußerungen des Grafen Lambsdorff von der FDP sind wir  Friedensbewegten in Wirklichkeit 'die Fünfte Kolonne Moskaus' im Fahrwasser Putins. Ich frage mich, in welcher Wirklichkeit lebt dieser Mann und seine Gesinnungsgenossen?

Wir sind hier auf dem Bodensee Friedensweg tragischerweise nicht, um uns am Frieden freuen zu können, sondern nach dem für uns überraschenden Überfall russischer Truppen auf die Ukraine entschlossen zu fordern:
Die Waffen nieder, sofortiger Stopp aller Kriegshandlungen in der Ukraine, weg vom Schlachtfeld an den Verhandlungstisch für einen Verhandlungsfrieden. Wir alle fühlen uns solidarisch mit den Menschen in der Ukraine, wir fragen uns, wie wir uns fühlen würden in solch einer schrecklichen Kriegswirklichkeit, die von heute auf morgen das Leben völlig verändert.
 
Ich weiß aus eigenem Erleben, was man fühlt, wenn Krieg ist – auch ich bin ein Kind des Krieges. Ein Kriegskind, geboren kurz nach der Schlacht bei Stalingrad 1943, als Goebbels den Totalen Krieg ausrief. Der Vater als Hitler-Soldat in Russland, die mit mir schwangere Mutter unter Panik im Bombenhagel auf der Straße und im Luftschutzkeller in Berlin. Nach der Bombardierung des Hauses geflüchtet nach Schlesien, dann in der Endphase des Krieges weitergeflüchtet zu Verwandten an den Bodensee.  Die Rüstungsstadt Friedrichshafen war durch Luftangriffe weitgehend zerstört. In unserem von den französischen Truppen besetzten Dorf war es ruhig, junge französische Besatzungssoldaten schenkten uns Kindern Süßigkeiten, für mich die erste Schokolade im Leben. Der Vater kam aus dem Krieg zurück und übernahm wieder die Macht in der Familie. Als Erstklässler spielten wir Verstecken am Kriegerdenkmal neben der Schule. Auf diese Weise waren die Halbwaisen aus der Klasse ihren Vätern nahe, den nicht aus dem Krieg heimgekehrten Soldaten, die nun auf dem Stein namentlich als Helden verewigt waren. Einige Mütter schoben Sonntags ihre verkrüppelt aus dem Krieg zurückgekehrten Männer in Rollstühlen zur Kirche. Was sie wohl beteten?

Hiroshima war in der Familie kein Thema, ich hätte es auch nicht verstanden. Der Koreakrieg Anfang der 50er Jahre kam während meiner Schularbeiten im Radio, es gab irgendwann wieder deutsches Militär und später in der Stadt Demonstrationen gegen die Atombewaffnung der Bundeswehr. Von Kriegsdienstverweigerung hatte ich als Dorfjugendlicher nie gehört. Meine erste Uniform war die der freiwilligen Feuerwehr im Dorf. Als 19jährige Rekruten der Bundeswehr lernten wir bei Schießübungen vom Feldwebel, dass die Schießscheiben 'Russen' heißen. Wer sie mit dem G3-Gewehr voll in die schwarze Mitte traf, galt als kleiner Held und durfte auch mal mit der Panzerfaust auf Panzerattrappen feuern. Jeder von uns bekam eine ABC-Schutzmaske mit Begleitheft mit dem Titel „Das Verhalten des Soldaten im Atomkrieg“. Helm auf, Schutzbekleidung an, so ist der Soldat im Atomkrieg geschützt, lernten wir. Lange hing das Heft mit dem guten Rat griffbereit an meiner Garderobe, für alle Fälle. Die Gasmaske kam mir in Gorleben abhanden, 20 Jahre später, beim Kampf gegen Atomkraft und Tränengaswolken. 1962 war der Atomkrieg wieder Thema. Russische Raketen, bestimmt für die Insel Kuba, sollten zwecks Gleichgewicht des Schreckens vor der Haustür der USA die strategische Antwort sein auf die amerikanischen Atomraketen, die seit 1959 von England, Italien und der Türkei aus auf Moskau gerichtet waren. Das mit den US-Raketen in Europa las man in keiner Zeitung, wohl weil es unsere, also gute Atomraketen waren. Der Vietnamkrieg lief regelmäßig beim Abendbrot im Schwarzweiß-Fernsehen. Zweifel am bisherigen Weltbild kamen bei mir auf, bestärkt durch Kommentare des vom Russlandfeldzug geprägten Vaters. Erst holen sich die Kommunisten Vietnam, dann Deutschland, dann die ganze Welt, hörte ich ihn sagen. In den damals in den Medien noch unzensiert gezeigten Kriegsberichten sah man Napalm-Angriffe und tote Frauen und Kinder in Dörfern und Reisfeldern liegen. Dazu schwieg der Vater, wie viele, weil es nicht zum verinnerlichten Gut-Böse-Schema passte. Krieg ist halt Krieg, Feindbilder in den Köpfen wollen stabil bleiben. Gottlob war dieser Krieg weit weg, so der allgemeine Trost.

Wer wie ich in dieser Zeit studierte, mit täglichen Kriegsbildern aus Asien konfrontiert, fragte nach größeren politischen Zusammenhängen. Wir liefen mit bei Vietnamdemos, hörten amerikanische Protestsongs von Joan Baez, Bob Dylan und Donovan gegen den Vietnamkrieg und gegen die Verlogenheit der Politiker. Man organisierte sich als junger 68er in der außerparlamentarischen Opposition, nicht nur von Kritikern APO genannt, unter anderem gegen die undemokratischen Notstandsgesetze und interessierte sich für die Vorgänge in Lateinamerika, wo Regierungen von ausländischen Geheimdiensten zwecks 'Demokratisierung' mit Gewalt beseitigt wurden, wie in Chile 1973. Die von den USA gestützte Militärjunta genoss den Beifall auch deutscher Großinvestoren. Entsprechend ihrer Erfahrung waren ihre Investitionen in Diktaturen sicherer aufgehoben als in wackeligen Demokratien.

Zu Weihnachten 1979 marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein, ein weiterer Krieg begann. Zu Beginn der 80er Jahre standen sich in Europa sowjetische SS 20-Raketen und amerikanische Pershingraketen und Marschflugkörper gegenüber, bei uns im Westen Nachrüstung genannt. Die Angst vor einem Atomkrieg war wieder da, mitten in Europa. Aus den USA hieß es, ein Atomkrieg sei führbar, weil begrenzbar auf das 'Schlachtfeld Europa'. Ich verfasste daraufhin mein erstes Flugblatt. Unter dem Motto 'Bomben schaffen keinen Frieden' demonstrierten wir 1983 in Bonn mit einer Million Friedensbewegten. Bei unseren Protestkundgebungen gegen die Pershings in Mutlangen saßen wir beim Straßen blockieren neben Heinrich Böll, Günter Grass und anderen kritischen Zeitgenossen. Heute trifft man manch frühere Protestler bei Demos an der US-Airbase Ramstein oder in Büchel in der Pfalz bei den dort stationierten zwanzig amerikanischen Atomraketen. Unsere Bundeswehrpiloten üben von dort aus seit Jahren den Abwurf der US-Atombomben, die NATO bestimmt im Ernstfall das  Einsatzgebiet. Jede einzelne Bombe unter den Kampfjets hat eine größere Sprengkraft als die Hiroshima-Bombe.

1989 erlebte ich in Berlin die große Systemwende mit. Täglich wurde die Mauer kleiner. Auch durch uns, Hammer und Meißel gehörten für uns Berliner Mauerpicker zum täglichen Gepäck. Der Kalte Krieg war nun vorbei, hieß es. Endlich! Keine DDR-Schikane mehr an der Grenze durch Stasibeamte in Zöllneruniform, wenn ich mit meinem VW-Käfer von Berlin zum Bodensee fahren wollte. Den Warschauer Pakt gab es nicht mehr, die russischen Truppen in der DDR wurden nachhause verabschiedet, auch der Geheimdienstler Wladimir Putin. Die NATO hätte sich ebenfalls auflösen müssen - oder ihre Weiterexistenz neu begründen. Kriege in Jugoslawien, in Nah- und Mittelost erledigten das.

Die neue politische Phase nach der Auflösung der Sowjetunion gab Gelegenheit zu heftigen Geschäftigkeiten beim Kampf um Einfluss auf das Weltgeschehen, abzulesen in Diskursen ab den 90ern. Der Westen hat gesiegt, hieß es. Eine neue politische Phase mit Folgen bis heute, über die bei geeigneteren Gelegenheiten - nicht auf dieser Friedenskundgebung - gründlicher zu reden wäre. Beispielsweise über unterschiedlich wahrgenommene Wirklichkeiten in West und Ost und in unseren Reihen über die Zusammenhänge und Hintergründe des aktuellen Krieges in der Ukraine und die Frage, welche Interessen dieser Krieg widerspiegelt, welche Rolle der Ukraine zugedacht ist im Schachbrettspiel zwischen den beiden Großmächten. Im Buch von Obamas Außenpolitikberater Brzinski kann jeder das ausführlich nachlesen. Heftige Diskussionen toben, je nach Hintergrundwissen über diese Zeit, ob der Ukraine-Krieg womöglich vermeidbar gewesen wäre. Auch wie man ihn schnellstmöglich beenden könnte. Wie eine Lösung aussehen könnte unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen beider Seiten, wie ein Waffenstillstand erreichbar wäre, vor allem zur Erhaltung der vielen kostbaren Menschenleben, die in einem ausgedehnten Krieg geopfert würden. Über all das gibt es in unserer Gesellschaft und in den Medien unterschiedlichste Ansichten, ganz sicher auch hier auf dem Kundgebungsplatz. Mein Appell lautet diesbezüglich: Unterschiedliche Ansichten beim Meinungsstreit sind zu respektieren.

Meine Auffassung ist:
Wer die Vorgeschichte dieses Angriffskrieges durch die russische Führung unter Putin ignoriert und die Ansicht vertritt, über die Entstehungsumstände zu diskutieren hieße den Angriffskrieg zu relativieren, oder meint, das mit der Vorgeschichte sei  „historisches Geschwafel“ (Zitat), „jetzt ist doch Krieg und wir müssen Waffen liefern“, der wird beim Suchen nach einer Friedenslösung scheitern. Gerade dann, wenn er als einzige Friedensmöglichkeit das Krieg führen gegen den Krieg sieht, also Gewalt und Gegengewalt ohne sichtbares Ende. Wer glaubt, dieser Krieg könne und solle nur mit einem Sieg-Frieden beendet werden, nimmt nach meiner Erfahrung den massenhaften Tod, endlose Vertreibung und die weitere Zerstörung der Ukraine mit in Kauf - letztlich auch das Risiko eines alles zerstörenden Atomkrieges. Die Waffen nieder! sagt der Verstand. Es muss unverzüglich eine Verhandlungslösung her! Es gibt nach meiner Erfahrung mit Kriegen keine Alternative zu Verhandlungen, auch in diesem Krieg nicht. Verhandlungslösungen anzustreben heißt bereit zu sein für Einbußen, auf beiden Seiten, wer kennt das nicht aus dem eigenen Lebenszusammenhang. Es geht ums Deeskalieren und beide Präsidenten mit Nachdruck dazu zu bringen, über umsetzbare Angebote und Forderungen zu verhandeln, bevor mit Waffen all das zerstört ist, was man mit Waffen verteidigen wollte. Den Aggressor mit allen verfügbaren Mitteln an den Verhandlungstisch zu bewegen, darum geht es.

Dazu ein Beispiel aus unserem Alltag der Straße: Ihr seid Zeuge einer Gewaltaktion, der eine, mit einem Knüppel bewaffnet, bedroht sein Gegenüber. Welche Reaktion fändet Ihr richtig? Als Dazukommende dem Bedrohten einen weiteren Knüppel zur Selbstverteidigung in die Hand zu drücken? Oder trotz Risiko des Scheiterns mit allem Geschick zu versuchen, den Angreifer zu beschwichtigen, die Situation zu deeskalieren? Hierin besteht die Kunst des gewaltlosen Widerstands - nicht mit Gegengewalt zu eskalieren. Nicht unter dem Eindruck des schrecklichen Kriegsgeschehens den Ruf nach mehr und mehr Waffen zu unterstützen. Denn das hieße, trotz Friedensgefühlen sich wiederzufinden in den Reihen der Befürworter von Waffengewalt, also der Kriegslogik statt der Friedenslogik. Die Frage muss gestellt werden: Hat man zusammen mit politischen Experten und Mediatoren wirklich alles bis ins Letzte unternommen bei der Suche nach einer für beide Seiten akzeptablen Friedenslösung? Oder fällt die Entscheidung über die Kriegsbeendigung oder -verlängerung woanders – ablesbar am Geldfluss ins Land?

Lasst mich noch etwas sagen zum Zukunftsproblem, das uns ausnahmslos alle betrifft, das hat auch mit Krieg und Militär zu tun.

Die Frage aller Fragen ist in dieser Zeit, welche Chancen uns bleiben, angesichts der im Gang befindlichen Klimaveränderung eine lebenswerte Zukunft für alle Lebewesen auf dieser Erde zu sichern. Oder anders gefragt, welche Überlebenschancen haben Menschen, Tiere und Pflanzen, wenn die Klimaziele nicht erreicht werden? Auch bedingt durch die gewaltigen Umwelt- und Klimaschädigungen durch den weltweiten Militärbetrieb in Kriegs- und Friedenszeiten und durch Rüstungsproduktion.

Welche Auswirkungen hätte es auf unser aller Leben, wenn die zunehmend von Waffenvermehrung und Kriegslogik geprägte Politik der Gegenwart von uns nicht in energisch in Frage gestellt wird?
Wie soll langfristig Frieden und Klimagerechtigkeit erreicht und gewahrt bleiben, wenn Politiker unter dem Begriff 'Sicherheit' allein militärische Sicherheit verstehen, die angeblich erreichbar ist durch unaufhörliche Vermehrung von Waffen und Kriegsgeräten, durch ungezügelte Aufrüstung, die weder dem Frieden noch der Sicherheit dient, die nur denen nutzt, die an diesem Rüstungswahnsinn beteiligt sind, auch die meisten Banken gehören dazu. Ebenso natürlich die Rüstungsindustrie in all ihren Ausprägungen. Wer sich über die Vielfalt der Zerstörungs- und Tötungstechnik ein Bild machen möchte, der muss nicht viel im Land herumreisen, es genügt, wenn er an den Bodensee kommt, in die dichteste Rüstungsregion in Europa. In Entfernungen, die bequem auch mit dem Fahrrad zu schaffen sind, liegen ca. 20 große und kleinere Betriebe, die auf Geschäfte mit dem Krieg ausgerichtet sind, mit Verteidigung oder defense im Firmennamen, auch wenn es sich um Angriffswaffen und Munition handelt. Ihr Ziel ist, Geräte für den Luft-, Land- und Seekrieg zu produzieren, die effektiv sind und dadurch zum Kriegsgeschäft taugen. Was bedeutet dabei Effektiv? Effektiv ist eine Waffe, wenn sie mehr Menschen umbringt oder Infrastruktur und Wohnhäuser platt macht als es dem Feind mit dessen Waffen gelingt. In der Kriegslogik heißt das dann Sieg im Krieg. Wirkliche Kriegsgewinnler sind die Investoren und die Aktieninhaber. Zu unruhigen Nächten dürfte bei ihnen der Spruch in der Homepage einer der Rüstungsfirmen führen: „Wir sehnen uns nach Frieden und Sicherheit“. Also Schluss mit den Rüstungsprofiten? Wer's glaubt...
Die Frage bleibt: Schaffen wir es, Politiker, die in dieser Kriegslogik gefangenen sind rechtzeitig abzuwählen und zukunftsfähig denkende und handelnde Frauen und Männer zu finden und sie in die Verantwortung für uns und kommende Generationen zu bringen? Ich hoffe auf die junge Generation, die offensichtlich mehr verstanden hat als die Masse der Älteren. Verstanden hat, dass das Ende der Mindestlaufzeit unserer Wohlstandsinsel bald erreicht sein wird, wenn wir weiterhin mit zugekniffenen Augen  vor uns hin leben, als wenn wir noch einen zweiten Erd-Planeten im Keller hätten.

Ich weiß, das alles sagt und fragt sich gut auf einer Kundgebung am sonnenbeschienenen Bodensee – ohne Schüsse und ohne Bombenangriffe. Meine Meinung zu den Themen „Wie geht Frieden?“ und „Solidarität mit oder ohne Waffen“ habe ich kund getan als im Krieg Geborener, von Kriegen lebenslang begleitet. Mir ist dabei klar, dass wir hier nicht diejenigen sind, die die Waffen liefern. Was wir uns gegenseitig liefern, sind lediglich Ansichten darüber. Nicht alle werden meine Ansichten teilen, die heftigen Dispute selbst in der Friedensszene zeugen davon. Es gilt für alle Beteiligten, Respekt gegenüber anderen Meinungen zu bewahren, flexibel zu sein ohne Anspruch auf die alleinige Wahrheit und die einzig gültige Wirklichkeitssicht. Eine solche würde nicht dem Frieden untereinander dienen und nicht dem gerechten Frieden in unserer noch unfriedlichen Welt. Mein Traum ist eine starke, wirkungsvolle Friedensbewegung, die durch ihre Geschlossenheit wirklichen Einfluss durchsetzt zugunsten einer lebenswerten Zukunft für alle, die in unserer großen Wohngemeinschaft, unserer Erde, zuhause sind. In diesem Sinne wünsche ich Euch allen viel Erfolg bei Eurem persönlichen Engagement für den Frieden, wie Ihr ihn versteht.  

Denn ohne Frieden ist alles nichts!  Ich danke Euch fürs geduldige Zuhören.


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