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2. April 2014 - Martin Breidert:

Offener Brief aus Anlass der ARD- Sendung
"Zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Der neue Nahe Osten“
(ARD 31. März 2013, 22.45 Uhr)

Sehr geehrter Herr Chaim Schneider, sehr geehrter Herr Armbruster,

das Interessanteste an einem Dokumentarbericht ist das,
was er nicht berichtet.

Sie erwähnen die Friedensverhandlungen unter Außenminister Kerry, erwähnen jedoch nicht, dass in der Zeit der Verhandlungen bereits 57 Palästinenser durch israelische Sicherheitskräfte getötet wurden. Sie erwähnen nicht, dass während dieser Friedensverhandlungen die israelische Regierung einen Ministerausschuss eingesetzt hat, der eine Annektierung des Jordantals vorbereiten soll.

Sie behaupten, die Menschen könnten sich in der Westbank frei bewegen. Sie erwähnen nicht, dass die von Israel besetzten Gebiete in A-, B- und C-Gebiete aufgeteilt sind, mit. Sie erwähnen nicht, dass in den besetzten Gebieten für Palästinenser seit 47 Jahren Militärrecht herrscht, während die Siedler unter Zivilrecht fallen. Selbst in Bir Zeit (A-Gebiet) hat das israelische Militär unlängst ein Haus gesprengt, „um einen Palästinenser festzunehmen“. Dabei wurde der junge Mann nicht festgenommen, sondern getötet – eine spezielle israelische Variante der Festnahme.

Sie erwähnen zwar, dass die vielen Checkpoints „echte Schikane [seien], völlig unnötig“. Sie erwähnen nicht, was das Ziel dieser Schikanen ist, die systematisch betrieben werden (vgl. Inge Günthers Bericht in der Berliner Tageszeitung vom 2.4. 2014).

Stattdessen berichten Sie über die moderne Trabantenstadt bei Ramallah mit wunderbarem Design. Zwar erwähnen Sie am Schluss, dass Israel für diese Stadt die Wasserversorgung verweigert. D.h. Sie klammern die willkürliche Wasserversorgung durch den israelischen Konzern Mekorot aus, der durch Military Order in den besetzten Gebieten herrscht.

Sie erwähnen zwar, dass gerade im letzten Jahr die Zahl der Siedler rapide zugenommen hat, Sie erwähnen jedoch nicht, dass diese Siedlungen völkerrechtlich illegal sind.

Sie erwähnen die Übergriffe der Siedler und lassen diese vor der Kamera zum Besten geben, sich angeblich nur zu verteidigen. Sie erwähnen nicht die so genannten Price-Tag-Attacks, mit denen sie gezielt Pogrome gegen Palästinenser anzetteln. Sie erwähnen nicht die gewaltsamen Übergriffe in Hebron und im Jordantal.

Sie erwähnen, dass die Mehrheit der Israelis eine Zwei-Staaten-Lösung befürwortet. Sie erwähnen jedoch nicht, dass laut einer israelischen Umfrage mehr als 20 % der Israelis einen „Transfer“ aller Palästinenser in einen neu zu schaffenden palästinensischen Staat in der jordanischen Wüste fordert (Jüdische Zeitung, Oktober 2013), so als lebten wir noch im kolonialistischen 19. Jahrhundert.

Sie berichten zwar, wie umstritten der Tempelberg ist, Sie erwähnen jedoch nicht, dass gemäß dem israelisch-jordanischen Friedensvertrag, Art. 9, Jordanien für die Verwaltung der Tempelberg zuständig ist, so dass der Besuch von Ariel Sharon auf dem Tempelberg zusammen mit starken israelischen Polizeikräften, der zur zweiten Intifada geführt hatte, völkerrechtswidrig war.

Sie erwähnen zwar am Ende des Abschnitts über die Blockade des Gazastreifens durch Israel („…und da ist da noch die israelische Blockade“). Sie erwähnen jedoch nicht, welche verheerenden Folgen diese hat für die Stromversorgung, für die die Wasserversorgung, für die Abwasserbehandlung, für die Einschränkung der Fischerei. Sie erwähnen nicht die entschädigungslose Konfiszierung von Land, um entlang der Grenze von Gaza einen Todesstreifen einzurichten. Sie erwähnen zwar die Raketenangriffe auf israelisches Gebiet und die beiden israelischen Kriege gegen Gaza, Sie erwähnen jedoch nicht die fortgesetzten täglichen Drohnenangriffe Israels.

Nicht berichten Sie von den entschädigungslosen Hauszerstörungen in Ostjerusalem und dem Landraub im Jordantal.

Nicht berichten Sie, dass durch den Bau der Sperranlage (Mauer/Zaun) mehr als 10 Prozent palästinensischen Landes der Westbank entschädigungslos konfisziert wurden und tausende Olivenbäume vernichtet wurden (oder ausgegraben und in Israel verkauft - Hehlerei).

Sehr geehrter Herr Chaim Schneider, Sie behaupten, dass „die Flüchtlinge nach internationalem Recht eigentlich nicht Flüchtlinge“ seien. Offenbar kennen Sie die UN-Resolution 194, Art. 11 nicht, sonst hätten Sie so etwas nicht sagen können.

Sie berichten zwar ausführlich über eine atomare Bedrohung des Iran, der keine Atomwaffen hat, aber nichts über die real existierenden israelischen Atomwaffen in Dimona.

Sie erwähnen nicht die Boykottbewegung gegen die israelische Besatzungspolitik, die Staatspräsident Peres bei einer Konferenz aller israelischen Außenminister als das größte Sicherheitsrisiko bezeichnet hat (so im Newsletter der israelischen Botschaft).

Es fällt auf, das Sie in Ihrem Doku-Bericht keine UN-Resolutionen [#1] erwähnen (außer dem UN-Teilungsplan, ohne den es den Staat Israel nicht gäbe). Sie erwähnen nicht das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag vom Juli 2004 [#2]. Sie erwähnen nicht die Berichte des UN-Menschenrechtsrats vom Januar 2013 [#3], nicht die Berichte von Amnesty International [#4] und UNICEF [#5]. Sie erwähnen nicht die regelmäßigen erschreckenden Berichte der UN-Organisation OCHA [#6], Sie erwähnen nicht die Berichte israelischer Menschenrechts-Organisationen, Sie erwähnen nicht den öffentlichen Appell des Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz [#7], der die Verletzungen der Menschenrechte und des Völkerrechts durch Israel anprangert. Sie erwähnen nicht, dass die EU-Leitlinien vom 19.7. 2013 [#8] festgestellt haben, dass weder das Westjordanland noch der Gazastreifen, weder Ostjerusalem noch die Golanhöhen völkerrechtlich zum israelischen Staatsgebiet gehören. Solche Rechtsvergessenheit teilen Sie leider mit vielen Journalisten.

Sehr geehrter Herr Armbruster, sehr geehrter Herr Schneider, damit Sie nicht meinen, ich würde wie der Blinde von der Farbe reden, füge ich den Bericht von meiner Studienreise durch das Westjordanland bei.

Mit freundlichen Grüßen

Martin Breidert


#1:
UN-Resolutionen

#2:
09.07.2004: Legal Consequences of the Construction of a Wall
                    in the Occupied Palestinian Territory

#3:
Berichte des Menchenrechtsrats
Der Bericht des UN-Menschenrechtsrats vom Januar 2013 liegt in deutscher Übersetzung - mit Vorwort von Annette Groth - beim Zambon Verlag vor:
"Die Menschenrechtslage in Palästina und anderen besetzten arabischen Gebieten"
ISBN 978 3 88975 222 2 (Preis 8,- €).

Auszug aus dem Bericht über die 22. Sitzung (S.5 unten):

"Die internationale Untersuchungskommission zu den Folgen der israelischen Siedlungen bezeichnete diese als faktische Annektion, die das Recht der palästinensischen Bevölkerung auf Selbstbestimmung in Frage stelle (A/HRC/22/63).
Die Regierung Israels solle den Siedlungsbau stoppen, Siedlungen zurückbauen und Entschädigung leisten. Ebenso sollten willkürliche Verhaftungen beendet werden. Die Delegation Palästinas forderte, dass internationale Unternehmen, die in solchen Gebieten tätig sind, ihre Wirtschaftsaktivitäten dort einstellten.
Weitere Berichte zur Region von OHCHR und UN Generalsekretariat:
zur Umsetzung der Resolutionen S-9/1 und S-12/1 (A/HRC/ 22/35),
zu Gaza (A/HRC/22/35/Add.1)
und zu den besetzten syrischen Golan-Höhen (A/HRC/22/36).
Der Sonderberichterstatter zu den seit 1967 besetzten Gebieten in Palästina, Richard Falk, legte ebenfalls seinen Bericht vor
(A/HRC/22/62).
Von Seiten der Regierung Israels war niemand zugegen."

#4:
01.10.2013: Israels Menschenrechtsakte
27.02.2014: Amnesty dokumentiert Gewalt gegen palästinensische Zivilpersonen

#5:
06.03.2013: UNICEF-Bericht "Children in Israeli Military Detention.
                    Observations and Recommendations"

#6:
UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA)

#7:
31.12.2012: Challenges to international humanitarian law:
                    Israel’s occupation policy
( PDF )
                    Übersetzung ins Deutsche

#8:
19.07.2013: Leitlinien über die Förderfähigkeit israelischer Einrichtungen
                    und ihrer Tätigkeiten in den von Israel seit Juni 1967
                    besetzten Gebieten im Hinblick auf von der EU finanzierte
                    Zuschüsse, Preisgelder und Finanzinstrumente ab 2014