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28. September 2015 - Martin Breidert:

Offener Brief an den früheren SPD-Bundestagsabgeordneten Gunter Weißgerber
als Antwort auf dessen Offenen Brief am 24. 9. 2015 in der Ostthüringer Zeitung


Sehr geehrter Herr Weißgerber,

Vieles deutet darauf hin, dass Sie Ihren Offenen Brief in ungebremster Wut verfasst haben.
Dass Jenas Oberbürgermeister Albrecht Schröter Israel als einen Besatzerstaat bezeichnet hat, entspricht präzise der völkerrechtlichen Lage. Seit 1967 ist die Westbank unter israelischer Militärverwaltung. Der Gazastreifen unterliegt seit Jahren einer totalen militärischen Abriegelung. Der Deutsche Bundestag forderte in einer Entschließung vom 1.7.2010 einstimmig, dass Israel die Blockade des Gazastreifens sofort zu beenden hat..
Die von Israel besetzten Gebiete nennt die UNO Occupied Palestinian Territories. Die EU hat in ihren verbindlichen Richtlinien (EU-Amtsblatt vom 19.7.2013) festgestellt, dass die von Israel besetzten bzw. annektierten Gebiete wie die Westbank und der Gazastreifen, Ostjerusalem und die Golanhöhen nicht zum israelischen Staatsgebiet gehören. Die EU-Außenbeauftragte Mogherini wies bei ihrem Antrittsbesuch in Tel Aviv und in Ramallah darauf hin, dass die von Israel errichteten Siedlungen, die nichts anderes als eine schleichende Annexion bedeuten, völkerrechtlich illegal sind. Sie kann sich dabei auf das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs vom 9.7.2004 berufen, das festgestellt hat, dass die Vierte Genfer Konvention anzuwenden ist, die 1951 von Israel ratifiziert wurde, und darum die Mauer, soweit sie auf palästinensischem Gebiet errichtet wurde, wie auch die Siedlungen völkerrechtlich illegal sind..
Der UN-Menschenrechtsrat hat 2012 vielfältige Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Besatzungspolitik festgestellt (Human Rights Council: Human rights situation in Palestine and other occupied Arab territories, ed. Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights, OHCHR, Geneva). Unicef hat in einem Bericht vom März 2013 erklärt, dass der Staat Israel die UN-Kinderkonvention verletzt, weil er Minderjährige in Militärhaft nimmt. Amnesty International hat im September 2013 darauf hingewiesen, dass der Staat Israel mit der sogenannten Administrativhaft (Haft ohne Anklage, ohne Prozess, mit der Möglichkeit unbestimmter Verlängerung) gegen humanitäres Kriegsvölkerrecht verstößt..
Sehr geehrter Herr Weißgerber, OB Albrecht Schröter bezieht sich auf die Menschenrechte (vgl. Art. 1 Grundgesetz) und auf das Völkerrecht (vgl. Art. 25 Grundgesetz), während Sie auf die Nazi-Zeit zurückgreifen. Das zeigt sich besonders, wenn Sie den Aufruf zum Boykott von Produkten aus den israelische n Siedlungen gleichsetzen mit dem Aufruf der Nazis „Kauft nicht bei Juden!“ Während dieser zum Ziel hatte, den in Deutschland lebenden Juden die ökonomische Existenz zu rauben, ehe sie schließlich millionenfach auch physisch vernichtet wurden, ist der jetzige Aufruf zum Boykott israelischer Waren darauf gerichtet, dass der Staat Israel die Menschenrechte einhält und das Völkerrecht nicht verletzt. Dieser Aufruf orientiert sich an dem Boykottaufruf gegen das Apartheidregime in Südafrika. Für die Westbank gilt nicht das Zollabkommen zwischen der Europäischen Union und Israel, urteilte der Europäische Gerichtshof am 25.2. 2010. (Az: C-386/08). Der Bundesfinanzhof hat in einem am 15.5.2013 veröffentlichten Urteil die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs bestätigt (Az.: VII R 6/12)..
Nicht nur die Kinder der Palästinenser, auch jüdisch-israelische Kinder werden in der Schule zum Hass erzogen. So hat die jüdisch-israelische Sozialwissenschaftlerin Nurit Peled-Elhanan, die selber eine Tochter durch einen palästinensischen Selbstmordattentäter verloren hat und 2001 den Sacharow-Preis des EU-Parlaments erhielt, nachgewiesen, dass Palästinenser in israelischen Schulbüchern als primitiv und terroristisch dargestellt werden („Palestine in Israeli School Books. Ideology and Propaganda in Education“)..
Sehr geehrter Herr Weißgerber, sie hatten 1989 die SPD in der DDR mitgegründet. 40 Jahre herrschte der Unrechtsstaat, seit 48 Jahren verweigert „die einzige Demokratie im Nahen Osten“ den Palästinensern das Selbstbestimmungsrecht. Mehr als 5000 Palästinenser befinden sich in Militärhaft, viele von ihnen wurden gefoltert. Das israelische Militär und die Siedler begehen seit Jahren Pogrome gegen Palästinenser, die sie als „Price-Tag-Attacks“ bezeichnen. Die UN-Organisation OCHA OPT veröffentlicht darüber regelmäßig Berichte, die im Internet abrufbar sind. Es wurden viele Palästinenser erschossen, viel mehr als jemals an der DDR-Grenze. Israel lässt Einreisende intensiver verhören, als das früher zu DDR-Zeiten geschah, vielen wird die Einreise verweigert..
Ursache und Wirkung werden vertauscht, wenn Sie - gemeinsam mit der Israel-Lobby – behaupten, die Hamas sei an dem Elend im Gazastreifen schuld. Die Hamas wurde 1987 gegründet, da hatte Israel bereits 20 Jahre den Gazastreifen erneut besetzt, unter Militärrecht gestellt und völkerrechtswidrig sogenannte Siedlungen gebaut..
Laut zu sagen, dass Israels Besatzungs- und Annexionspolitik völkerrechtswidrig sind, hat mit Antisemitismus nichts zu tun. Während es Ihnen um „Freunde“ und „Feinde“ Israels geht, stellt sich der Jenaer Oberbürgermeister Albrecht Schröter, wie es unser Grundgesetz verlangt, auf den Boden der Menschenrechte und des Völkerrechts. Wenn jemand, der diese Grundsätze vertritt, ein Feind Israels sein soll, dann ist irgendetwas mit den vermeintlichen Israel-Freunden faul..
Der israelische Friedensaktivist Reuven Moskovitz, der das israelisch-palästinensische Friedensdorf Newe Shalom gegründet hat, spricht von einer „kriminellen deutsch-jüdischen Symbiose“: „Diese entstand aus der Tragik der Geschichte. Das führte dazu, dass die meisten Juden sich als ultimative Opfer fühlen und darstellen, auch wenn sie eigentlich schon Täter geworden sind. Dagegen nehmen die Deutschen eine Schuldintensität an, auch wenn sie keine Täter mehr sind …. Die deutsche Außenpolitik hat sich seit der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Israel total der israelischen ‘Sicherheitspolitik‘ unterworfen. Wegen des ‚besonderen Verhältnisses‘, das Deutschland mit Israel verbindet, solidarisiert sich Deutschland fortwährend und undifferenziert mit der Politik Israels,…“.
Dr. Martin Breidert


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