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16. April 2014 - Martin Breidert:

Offener Brief an den Autor eines Propaganda-Artikels:

Sehr geehrter Herr Becker,

Ihr Gastbeitrag in der Frankfurter Rundschau vom 9.4.2014 widerspricht völlig dem, was ich während einer Studienreise im von Israel besetzten Westjordanland erlebt habe.

Wenn ich Ihre Ausführungen lese, habe ich den Eindruck, dass Sie niemals die seit 1967 besetzte Westbank kennen gelernt haben. Auf jedem zweiten Hügel findet sich inzwischen eine völkerrechtswidrige israelische Siedlung. In Hebron haben sich Siedler in der palästinensischen Altstadt in den oberen Stockwerken der Basarstraße förmlich eingenistet und werfen allen Unrat, aber auch Steine auf die Straße, so dass Netze ausgespannt werden mussten, um die Menschen zu schützen (zu sehen in vielen YouTube-Videos, nachzulesen in den Berichten israelischer (!) Soldaten der Vereinigung „Breaking the Silence“).

Ich wünschte, Sie würden einmal das Jordantal besuchen und sich von Vertretern der in Frankfurt ansässigen Hilfsorganisation medico international die Lage der verbliebenen und noch nicht vertriebenen palästinensischen Bewohner erklären lassen. Da wird Land ohne jede Entschädigung beschlagnahmt und israelischen Siedlern als Farmland übergeben. (Die Stadt Frankfurt kann nicht entschädigungslos Land enteignen, das verbietet Art. 14 GG). Da werden Brunnenprojekte, von einer schwedischen Hilfsorganisation projektiert und finanziert, willkürlich gestoppt. Die jetzige israelische Regierung hat sogar einen Ministerausschuss eingesetzt, der die offizielle Annexion des Jordantals vorbereiten soll. Das alles hat mit den von Ihnen genannten Sicherheitsbedürfnissen Israels nichts zu tun, sondern mit dem Willen, die ansässige palästinensische Bevölkerung zu vertreiben.

Sie beginnen Ihren Beitrag mit einem Hinweis auf Theodor Herzl. Der zionistische Traum begann mit einer Lüge, die bis heute Unheil bedeutet: „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“. Dass Ben Gurion und seine Unterstützer den UN-Teilungsplan nur pro forma akzeptierten, tatsächlich jedoch die Vertreibung Hunderttausender von Palästinensern planten und exekutierten, noch ehe die arabischen Staaten Israel den Krieg erklärten , ist längst durch die neueren israelischen (!) Historiker wie Ilan Pappe, Benny Morris und andere bewiesen, nachdem sie die Tagebücher Ben Gurions sowie die Archive von Irgun und Hagana hatten einsehen dürfen.

Ehe Sie sich wieder lautstark öffentlich für eine Solidarität mit Israel einsetzen, sollten Sie die Erklärung des Präsidenten des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, Peter Maurer, lesen. Es ist schon ungewöhnlich, dass das IKRK seine diplomatische Zurückhaltung aufgegeben hat, um auf die Verstöße Israels gegen die Menschenrechte hinzuweisen. Noch ungewöhnlicher ist die Auflistung dieser Menschenrechtsverletzungen, die vom UN-Menschenrechtsrat in seinem Bericht vom Januar 2013 beklagt werden. Dieser Bericht wurde jetzt von dem Frankfurter Zambon-Verlag in deutscher Übersetzung veröffentlicht. Ähnliches berichten Amnesty International, UNICEF und auch israelische (!) Menschenrechtsorganisationen wie B’Tselem.

Stattdessen übernehmen Sie die bekannte Floskel vom einzigen demokratischen Rechtsstaat im Nahen Osten, der seit 47 Jahren die Palästinenser unter Militärecht verwaltet und sie damit weitgehend rechtlos macht. Die täglichen Verletzungen der Menschenrechte in der besetzten Westbank wären in Ihrer Stadt Frankfurt undenkbar.

Die westliche Welt empört sich über die "Annexion" der Krim durch Russland und zugleich schweigt sie nicht nur zur Besatzungs-, Annexions- und Abriegelungspolitik Israels, sondern Politiker wie Sie unterstützen sogar solches völkerrechtswidrige Vorgehen.

Sie beziehen sich in Ihrem Artikel auf Israels Unabhängigkeitserklärung. Darin hat sich Israel zur Einhaltung der UN-Charta verpflichtet. Der Staat Israel ist durch einen UN-Beschluss zustande gekommen, darum darf er nicht Dutzende von UN-Resolution missachten. Der UN-Teilungsbeschluss sah nicht nur die Gründung eines Staates Israel vor, sondern auch die Gründung eines arabischen States. Jerusalem sollte unter internationale Verwaltung gestellt werden. Israel hat sich de facto ebenso wenig an den UN-Teilungsplan gehalten wie die arabischen Nachbarstaaten. Kapitel 2 des UN-Teilungsplans erklärt:

“No expropriation of land owned by an Arab in the Jewish State (by a Jew in the Arab State) shall be allowed except for public purposes. In all cases of expropriation full compensation as fixed by the Supreme Court shall be said previous to dispossession.”

 

Die UN-Völkergemeinschaft hat am 29.11.2012 mit sehr großer Mehrheit Palästina als einen Staat mit Beobachterstatus anerkannt (wie Jahrzehnte vorher den Vatikan). Darum muss Israel endlich auch Palästina anerkennen. Mit den Oslo-Abkommen hat die Palästinensische Autonomiebehörde den Staat Israel anerkannt. Umgekehrt warten die Palästinenser seit Jahrzehnten auf ihre Anerkennung.

Sich einseitig auf Israels Narrativ festzulegen, wie Sie dies in Ihrem Beitrag leider tun, hilft weder Israel noch Palästina. Dass Israel nicht zum Frieden bereit ist, zeigen fast täglich die Äußerungen von Minister Bennet, der als Kabinettsmitglied in der Regierung vertreten ist.

Während der sogenannten Friedensverhandlungen starben 57 Palästinenser durch israelische Waffen. Die UN-Organisation OCHA berichtet monatlich über gewaltsame Übergriffe sowohl von Soldaten wie auch von Siedlern (im Internet nachzulesen).

Weder Sie noch die israelische Regierung haben jemals klar gesagt, was mit mehr als 4 Millionen Palästinensern geschehen soll, die in der Westbank und im Gazastreifen leben. Laut einer Umfrage, die in der deutschsprachigen „Jüdischen Zeitung“ vom Oktober 2013 veröffentlicht wurde, sprechen sich mehr als 20 Prozent der Israelis für einen „Transfer“ aller Palästinenser in einen neu zu schaffenden palästinensischen Staat irgendwo in der jordanischen Wüste aus, so als lebten wir noch im kolonialistischen 19. Jahrhundert. (Auch Stalin deportierte ganze Ethnien).

Wenn Sie begeistert für eine Solidarität mit Israel werben, frage ich mich, welches Israel Sie denn in welchen Grenzen meinen?

Die EU-Kommission, die gewiss nicht aus antisemitischen Vertretern besteht, hat in ihren Leitlinien vom 19.7.2013 festgestellt, dass weder die Westbank noch Ostjerusalem, weder der Gazastreifen noch die Golanhöhen völkerrechtlich zum israelischen Staatsgebiet gehören.

Palästinenser kommen bei Ihnen nur als Terroristen vor.
Wer ist ein Terrorist?
War der Friedensnobelpreisträger Nelson Mandela, der zeitweilig zum bewaffneten Kampf aufgerufen hatte, ein Friedenskämpfer oder ein Terrorist?
Sind die Palästinenser, die im Westjordanland seit 47 Jahren als weithin Rechtlose und im Gazastreifen unter einer lebensbedrohlichen Blockade leiden, Widerstandskämpfer oder Terroristen, wenn sie gewaltsamen Widerstand gegen die Besatzung und Abriegelung leisten?
War der israelische Ministerpräsident und Friedensnobelpreisträger Menachim Begin, der maßgeblich an dem Anschlag auf das Jerusalemer King-David-Hotel mit mehr als 90 Toten beteiligt war, ein zionistischer Held oder ein Terrorist?
Waren die Menschen, die den Aufstand im Warschauer Ghetto organisierten, Terroristen oder Freiheitskämpfer?
War Charles de Gaulle ein Terrorist, als er gegen die deutsche Besatzung zum Widerstand aufrief?
War Gerry Adams, der in Nordirland die IRA befehligte, später das Karfreitags-Friedensabkommen aushandelte und schließlich für einen Sitz im britischen Unterhaus gewählt worden war, ein Terrorist oder ein Freiheitskämpfer?

Auch wenn ich als Christ für Gewaltfreiheit eintrete, nehme ich zur Kenntnis, dass das Völkerrecht gewaltsamen Widerstand gegen eine Besatzungsmacht erlaubt. Vielleicht sollten Sie und andere Politiker mit dem Begriff Terrorismus etwas sorgsamer umgehen.

Lillian Rosengarten, eine in Frankfurt geborene Shoa-Überlebende, die heute in den USA lebt und von der Frankfurter Oberbürgermeisterin feierlich empfangen wurde, hat einmal zu Recht gesagt:

„Die Palästinenser sind die letzten Opfer des Holocaust.“

 

Darum haben wir Deutsche sowohl eine historische Verpflichtung für Israel als auch für Palästina. Es könnte sich als schwerer geschichtlicher Irrtum erweisen zu meinen, wenn man sich ganz auf die israelische Seite stellt, stünde man automatisch auf der richtigen Seite der Geschichte.

Ich erlaube mir, eine Kopie dieses Schreibens an Frau Lillian Rosengarten zu senden, die mit mir freundschaftlich verbunden ist.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Martin Breidert