Menü

11. Oktober 2015 - The Guardian, Marwan Barghouti:

Es wird keinen Frieden geben, bis Israels Besetzung von Palästina endet
Wir haben versucht, geduldig zu sein, aber die internationale Gemeinschaft ist in unserem Fall gescheitert. Die Freiheit für das palästinensische Volk ist lange überfällig.
Die derzeitige Eskalation der Gewalt begann nicht mit dem Mord an zwei israelischen Siedlern, sie begann bereits lange zuvor und geht bereits seit Jahren immer weiter. Täglich werden Palästinenser getötet, verwundet, festgenommen. Täglich schreitet der Kolonialismus weiter voran, wird die Blockade gegen unser Volk in Gaza fortgesetzt; die Unterdrückung bleibt bestehen. Da viele heutzutage wollen, dass wir mit masiven Konsequenzen einer neuen Gewaltspirale überflutet werden, bitte ich – so wie ich es im Jahre 2002 tat – sich mit den Grundursache (Wurzel des Konfliktes I.G.) zu befassen: die Verweigerung der palästinensischen Freiheit.
Einige haben behauptet, der Grund für das Nicht-Zustandekommen eines Friedensabkommens, sei Präsident Yasser Arafats Kompromisslosigkeit oder Präsident Mahmoud Abbas Unfähigkeit, aber beide waren bereit und hätten ein Friedensangebot unterzeichnen können. Das wahre Problem ist, dass Israel - Besetzung anstatt Frieden - gewählt und die Verhandlungen lediglich als Deckmantel benutzt hat, um sein koloniales Projekt voranzubringen. Rund um die Welt kennt jede Regierung diese simple Tatsache und trotzdem behaupten so viele, die Rückkehr zu den gescheiterten Rezepten der Vergangenheit könne Freiheit und Frieden erzielen. (Nur) Geisteskrankheit tut immer und immer wieder dasselbe und erwartet andere Ergebnisse.
Ohne eine klare israelische verbindliche Verpflichtung, sich völlig aus dem palästinensischen Gebiet, das es im Jahre 1967, einschließlich Ostjerusalem, besetzt hat, zurückzuziehen, kann es keine Verhandlungen geben; ein komplettes Ende jeglicher kolonialer Politik; eine Anerkennung der unabdingbaren Rechte des palästinensischen Volkes, einschließlich seines Rechts auf Selbstbestimmung und Rückkehr sowie die Entlassung aller palästinensischer Gefangenen. Wir können nicht mit der Besatzung leben und wir werden nicht vor ihr kapitulieren.
Wir wurden aufgerufen, geduldig zu sein, und wir boten eine Chance nach der anderen, um ein Friedensabkommen zu erreichen. Vielleicht wäre es nützlich, die Welt daran zu erinnern, dass unsere Zwangsenteignung, Verbannung und Abschiebung sowie die Unterdrückung nun bereits seit fast 70 Jahren andauert. Wir sind der einzige Punkt, der auf der UN-Agenda seit ihrer Gründung steht. Uns wurde gesagt, dass, wenn wir zu friedlichen Mitteln und auf diplomatische Kanäle zurückgriffen, wir die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft gewinnen. Jedoch, als im Jahre 1999, kurz vor der Interimsperiode, diese Gemeinschaft wieder scheiterte, bedeutungsvolle Schritte zu unternehmen und weder ein internationales Rahmenbedingungen, das internationale Recht und die UN-Resolutionen durchzusetzen, noch Maßnahmen zu erlassen, um Rechenschaft zu sicherzustellen, darunter Boykott, Desivestitionen und Sanktionen, die eine primäre Rolle bei der Befreiung der Welt von dem Apartheidsregime spielte.
Also, was verlangt man, das wir tun sollen, wenn internationales Handeln, das der israelischen Besatzung und deren Straffreiheit ein Ende zu setzt oder sogar Maßnahmen, die uns schützen, ausbleiben? Zur Verfügung stehen und darauf warten, dass die nächste palästinensische Familie verbrannt wird, das nächste palästinensische Kind getötet wird oder die nächste Siedlung errichtet wird? Die gesamte Welt weiß, dass Jerusalem die Flamme ist, die Krieg und Frieden entfachen kann. Warum schweigt die Welt, während die israelischen Angriffe gegen das palästinensische Volk in der Stadt und den muslimischen und christlichen Heiligen Stätten, insbesondere dem Al-Haram al-Sharif, unvermindert weitergehen? Israels Aktionen und Verbrechen zerstören nicht nur die Zwei-Staatenlösung in den Grenzen von 1967 und verstoßen gegen das internationale Recht, sondern drohen, einen lösbaren politischen Konflikt in einen nie endenden religiösen Krieg umzuwandeln, der die Stabilität einer Region, die bereits nie dagewesene Unruhen erfährt, untergräbt.Kein Volk der Welt würde akzeptieren, mit Unterdrückung zu existieren. Von Natur aus sehnen sich Menschen nach Freiheit, kämpfen für Freiheit, opfern sich für die Freiheit und die Freiheit des palästinensischen Volkes ist lange überfällig. Während der ersten Intifada startete die israelische Regierung eine “brecht ihre Knochen, um ihren Willen zu brechen” -Politik. Trotzdem hat das palästinensische Volk von Generation zu Generation bewiesen, dass sein Wille nicht zu brechen ist und dies keiner Prüfung bedarf.
Diese neue palästinensische Generation hat nicht auf Einheitsgespräche gewartet, um eine nationale Einheit zu verkörpern, was politischen Parteien nicht gelungen ist, sondern ist über politische Unterschiede und geographische Fragmentierung hinweg entstanden. Sie hat nicht auf Instruktionen gewartet, um ihr Recht aufrechtzuerhalten und ihre Pflicht, sich dieser Besetzung zu widersetzen. Sie tut dies ohne Waffen, obwohl sie mit einer der größten Militärmächte der Welt konfrontiert ist. Und trotz allem bleiben wir davon überzeugt, dass Freiheit und Würde triumphieren, und wir werden das überstehen werden. Die Fahne, die wir mit Stolz an der UN gehisst haben, wird eines Tages über den Mauern der Altstadt von Jerusalem wehen, als Zeichen unserer Unabhängigkeit.
Ich war an dem Kampf für die palästinensische Unabhängigkeit vor 40 Jahren beteiligt und wurde zum ersten Mal im Alter von 15 Jahren inhaftiert. Das hat mich nicht davon abgehalten, mich weiterhin im Einklang mit dem internationalen Recht und den UN-Resolutionen für den Frieden einzusetzen. Aber Israel, die Besatzungsmacht, hat methodisch diese Perspektive von Jahr zu Jahr zerstört. Ich habe 20 Jahre meines Lebens in israelischen Gefängnissen verbracht, einschließlich der letzten 13 Jahre. Diese Jahre haben mich nur noch mehr bestärkt hinsichtlich der unumstößlichen Wahrheit:
Der letzte Tag der Besatzung wird der erste Tag des Friedens. Diejenigen, die Letzteres erreichen wollen, müssen handeln - jetzt handeln - um das Frühere [die Besatzung] abzuschaffen.

(übers. v. Inga Gelsdorf)

[ Original in Englisch ]


Marwan Bargouthi ist seit 2002 in einem israelischen Militärgefängnis in Haft,
er wird von manchen als palästinensischer Nelson Mandela bezeichnet.