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9. Oktober 2015 - +972, Noam Sheizaf:

Israel hält immer noch alle Karten in der Hand

Die relative Ruhe vor Ort in den letzten Jahren, die von der Palästinensischen Autorität auf Israels Geheiß erzwungen wurde, ließ die Israelis glauben, sie könnten Frieden und Wohlstand genießen, ohne die Besatzung zu beenden.
Dreizehn Jahre vergingen zwischen der Ersten Intifada, die im Dezember 1987 ausbrach und dem Beginn der Zweiten im Oktober 2000. Beide Intifadas dauerten ungefähr fünf Jahre. Es waren 15 Jahre seit Beginn der Zweiten Intifada und 10 Jahre seit sie endete.
Wenn die Geschichte und die Erfahrung uns etwas lehrt, so ist es genau der Zeitrahmen für die Ankunft einer neuen Generation junger Palästinenser, die willig sind, sich Israel zu widersetzen – wie ihre großen Brüder es taten, und vor ihnen ihre Eltern. Diese Theorie stimmt auch, wenn Sie sich das Profil jener ansehen, die die Messerattacken und jener, die an den Demonstrationen in den letzten Tagen teilnahmen -vorwiegend unter Zwanzigjähre.
Die Ereignisse der letzten Wochen sind keine Intifada. Angriffe und Demonstrationen gegen israelische Symbole und Ziele, sowohl zivile als auch militärische gleichermaßen, haben seit den 1970-er Jahren mit unterschiedlicher Häufigkeit stattgefunden. Die Intifadas hingegen charakterisierten sich durch einen Volksaufstand, der sich global durch die gesamte palästinensische Gesellschaft und ihre Institutionen zog (obwohl die Zweite Intifada schnell in einen bewaffneten Kampf überging, der von einer relativ kleiner Anzahl Militanter ausgeführt wurde.)
Die heutige Situation ist anders. Sogar Netanyahu war gezwungen, zuzugeben, dass die Palästinensische Autorität an den derzeitigen Unruhen nicht teilnimmt. Die Ereignisse zentrieren sich in Ostjerusalem, das unter direkter israelischer Kontrolle steht, und nicht in der Westbank. Das zeigt auch, weshalb Israel alles, was es kann, tun wird, um den Zusammenbruch der PA zu verhindern, dabei jedoch eine Rückkehr zur Situation vor Oslo zu verhindern, etwas, das eine Reihe von Demagogen der israelischen Rechten fordern. Die PA, als Israels Sicherheits-Vertragspartner, ist beiweitem effizienter bei der Aufrechterhaltung des Friedens, als der Shin Bet oder die IDF es je gewesen sind. Israel wird sie nur beseitigen, wenn sie vollkommen aufhört, ihre Rolle zu erfüllen.

Die internationale Strategie der PLO ist zusammengebrochen
Die PA ist eine nutzlose Institution. Ein großer Teil ihres Budgets, 25 Prozent, dient, wie man sagt, der Sicherheit. Sie sichert jedoch nicht die der Palästinenser, sondern vielmehr die der Israelis. Palästinensischen Polizeioffizieren ist es verboten, palästinensische Dorfbewohner vor Siedlerangriffen zu schützen. Dazu müssen sie die israelische Polizei rufen.
In dem letzten Jahrzehnt übernahm die Palästinensische Autorität die Rolle von Israels Operations-Vertragspartner bei der Besetzung, mit der Auffassung, dass Ruhe in der Westbank die erforderlichen Bedingungen für einen Fortschritt bei den Friedensverhandlungen mit Israel schaffen würde. Das ist das, was den Palästinensern immer versprochen worden war: “Wenn die Gewalt endet, werden wir mit euch sprechen und ihr bekommt euren Staat.”
Aber es ist jetzt klar, dass die Dynamik das genaue Gegenteil ist. Die Ruhe vor Ort ließen die Israelis glauben, sie könnten sich des Friedens und des Wohlstands erfreuen, ohne die Besatzung zu beenden. Das tragische Paradox ist, dass es die Intifadas waren, die zu israelischen Zugeständnissen (Oslo, Rückzug aus Gaza) geführt haben, wohingegen die friedlichen Jahre zu kompromissloser Haltung und zur Ausbreitung der Siedlungen geführt haben. In Wochen wie dieser ist es schlimm, wieder an den Aufruhr zu erinnern, den Netanyahu mit seiner Forderung entfachte, dass die Palästinenser Israel als “Jüdischen Staat” - und nicht nur als “den Staat Israel”anerkennen, so als ob Abbas seine Identität definieren müsste. Seien Sie sicher, dass Netanyahu, falls Abbas Israel als Jüdischen Staat anerkannt hätte, (mit Sicherheit) etwas anderes gefunden hätte, was er fordern würde. Alles, um nur ja keine Abkommen zu erreichen.
Als die PLO-Führung begriff, dass sie mit Israel nirgendwohin kommt, ging sie das Lotteriespiel ein, indem sie internationalen Druck suchte – zuerst von den Vereinigten Staaten und dann von Europa. Die Sache ist, Washington wird niemals Druck auf Israel ausüben. Wenn man Amerikas Zusage zum Iran-Abkommen mit seinem schlaffen Vorgehen in der Angelegenheit Palästinas vergleicht, rücken die Dinge ziemlich schnell in den Fokus. Für die Obama-Regierung diente das Iran-Abkommen amerikanischen Interessen. Der israelisch-palästinensische Konflikt war ein bisschen mehr als eine Irritation.
Die dramatischen Entwicklungen in der arabischen Welt, insbesondere in Syrien, sind die letzten Nägel in dem Sarg der internationalen Strategie Palästinas. Syrien ist von einem iranisch-türkisch-saudischen Stellvertreter-Krieg in einen amerikanisch-russischen Stellvertreter-Krieg übergegangen, mit massiven Konsequenzen für die gesamte Region und darüber hinaus – und als ob das noch nicht genügen würde, sind die Amerikaner nun besorgt um die Stabilität von Jordanien. Unter diesen Bedingungen erscheint Israels Strategie, den Status Quo in den Besetzten Gebieten zu verstärken und aufrechtzuerhalten, den Vereinigten Staaten plötzlich angemessen. Hillary Clinton, die noch immer Spitzenkandidatin der Demokraten ist, sagte letzte Woche, der israelisch-palästinensische Konflikt müsse wahrscheinlich warten, und es ist klar, dass kein Kandidat der Republikaner auch nur daran denken würde, Druck auf Israel auszuüben und die Besetzung zu beenden. Die internationale Strategie der PLO brach in diesem Jahr völlig zusammen, und Abbas hatte nie einen Plan B.

Ein Ein-Parteien-Konflikt
Ich weiß nicht, inwieweit die in der Westbank und in Ostjerusalem protestierenden palästinensischen Jugendlichen über geo-politische Erwägungen nachdenken, geschweige denn, sich darum kümmern. Was absolut klar ist, ist, dass in der Vergangenheit einige Jahre diplomatischer Maßnahmen nichts außer völliger Verzweiflung in den Besetzten Gebieten erbracht haben. Das ist etwas, das ich von jedem einzelnen Palästinenser, mit dem ich gesprochen habe, zu hören bekam: Sie sind unfähig, sich auch nur vorzustellen, welche theoretische Kette von Ereignissen eines Tages das Ende der Besatzung bringen könnte. Unter dieser Voraussetzung behalten einige ihr tägliches Leben in Ramallah oder Jenin, das sich in dem letzten Jahrzehnt ein wenig erholt hat, bei, wohingegen andere bereit sind, zu verzweifelten Mitteln zu greifen.
Die Israelis sprechen gerne von “Aufwiegelung” in den Besetzten Gebieten. Es verschafft eine mutmachende Erklärung der Gewalt, die jetzt und immer wieder ausgebrochen ist. Israels Sinn für Selbstgerechtigkeit wird nur wieder verstärkt durch das Gefühl, dass die Palästinenser die Gewalt unterstützen und dass einzig und allein die israelische Seite Frieden und Ruhe haben will: ein wenig Normalität, Handel, einige Kontrollstellen aufheben, hier und da, als Zeichen seines guten Willens, usw.
Aber die Situation ist selbstverständlich völlig anders. Die Palästinenser sind permanent der Gewalt der Besatzung ausgesetzt, täglich und willkürlich, wohingegen sich Israelis in erster Linie der Ruhe und des Wohlstands erfreuen. Der israelisch-palästinensische Konflikt existiert die meiste Zeit für eine Seite - und nur für die eine Seite.
Die Palästinenser sind Gefangene in ihrem eigenen Land. Sie können sich nicht frei bewegen, können ihr Land nicht betreten und verlassen. Besucher zu empfangen ist abhängig von dem guten Willen des israelischen Militärregimes. Dasselbe gilt für das Offenhalten der Straßen und Erbauen neuer Wohnviertel und sogar das von einzelnen Häusern. Was den Schutz gegen Angriffe der Juden angeht, so hängen sie vollkommen vom guten Willen Israels ab. Die israelische Armee hat nie den Schutz der palästinensischen Bevölkerung als Teil ihrer Aufgabe bei der Kontrolle der palästinensischen Gebiete angesehen. Sie werden vor israelischen Militärgerichten verurteilt, sie können ohne Schuldnachweis und ohne Untersuchungshaft inhaftiert werden, und so weiter und so weiter. Und selbstverständlich haben sie auch keine politischen Rechte, wie Wahlbeteiligung oder politsche Repräsentation.
Politik war immer ein Ersatz für Gewalt, indem zwischen verschiedenen Bevölkerungen Beziehungen hergestellt werden. Diejenigen, die kein Recht haben, sich an der Politik zu beteiligen, kommen schnell zu dem Schluss, dass sie nichts außer Gewalt zur Verfügung haben. Selbst wenn das letzte soziale Netzwerk, das gegen Israel, die Juden oder die Zionisten postet, aus dem Internet entfernt würde, ginge die Gewalt noch weiter. Ebenso würde die vollkommene Abschaltung jedes einzigen Organs und jedes Netzwerks der Hamas die Organisation nicht davon abhalten, gleich danach wieder neu zu sprießen, immer wieder und wieder.
Wir müssen uns immer und immer wieder in Erinnerung bringen: Die Besatzung ist die ultimative Terroristen-Infrastruktur. Man muss besonders blind sein, zu glauben, dass extreme Ungleichheit und mehr als ein halbes Jahrhundert der Unterdrückung irgendein anderes Ergebnis bringen könnte. Wir dürfen uns auch nicht im Hinblick auf das Gegenteil täuschen lassen: die Beendigung der Besatzung mag keinen Frieden bringen, ganz bestimmt nicht kurzfristig, aber sie fortzusetzen, wird mit Sicherheit zu einem Bürgerkrieg führen, von dem wir diese Woche einen kleinen Vorgeschmack bekamen. Sicher, es ist weder Syrien, noch Jugoslawien, auch nicht annähernd. Aber sogar Syrien und Jugoslawien waren nicht Syrien und Jugoslawien, bis sie existierten, beide. Die Situation in Israel – zwei gemischte Bevölkerungen, die keine Perspektive haben und bei denen die eine Seite jegliche Macht und Rechte - hingegen die andere nur Brotkrümel hat – das ist das fundamentale Problem.
In diesem Zusammenhang war das besorgnis-erregendste Phänomen dieser Woche die spontane Gewalt normaler Bürger auf beiden Seiten. Zum Teil ist der Grund dafür, dass beide Seiten nur Terror ausgesetzt sind, der von dem jeweils anderen geschmiedet wurde. Die Juden sahen den Video von Adelle Bennett, die um Hilfe schrie und von Ladenbesitzern in Ostjerusalem nur Spott erntete. Die Araber sahen den (jüdischen -I.G.) Mob, der Fadi Alloun — einer der mutmaßlichen Messerstecher von Jerusalem — jagte, bis die Polizei ihn kaltblütig exekutierte. Vielleicht gibt es eine andere Erklärung für das jugendliche Alter der Messerstecher: sie sind diejenigen, die sozialen Medien am meisten ausgesetzt sind, in denen sämtliche Videos und Berichte zirkulieren.

Ruhe kommt mit einem Preis
Die schlechten Nachrichten sind zweifach. Erstens, es ist bedeutend schwerer, politische Lösungen bei einem Mangel an zentralen Machtstrukturen zu finden. Zweitens, man brauchte bei früheren Gesprächsrunden vier bis fünf Jahre gegenseitigen Blutvergießens – in denen Israel einen hohen Preis zahlte und die Palästinenser mehrere – bis ein israelischer Konsens gebildet wurde, der bereit war, reelle Zugeständnisse in Betracht zu ziehen (Oslo und den Rückzug aus Gaza). Im Augenblick besteht keine Aussicht auf eine vorübergehende oder dauerhafte Lösung. Es gibt keine öffentliche Unterstützung und keine Politiker, die uns in diese Richtung führen.
Oppositionsführer, Isaac Herzog, verlangte diese Woche, dass die Regierung über die gesamten Besetzten Gebiete den Belagerungszustand verhängt: eine kollektive Bestrafung, die uns keinen Meter näher an irgendeine Lösung bringt, weder militärisch noch diplomatisch. Minister Naftali Bennett schlug vor, neue Westbank-Siedlungen zu erbauen. Der ehemalige Außenminister Avigdor Liberman rief die Öffentlichkeit auf, sich an den Arabern zu rächen. Yair Lapid schlug vor, eine “Rasenmäher”-Politik zu aktivieren ( Gott alleine weiß, was das bedeutet), und drückte seine Unterstützung für die jüdischen Siedler aus, die in den arabischen Wohnvierteln von Ostjerusalem leben. Netanyahu sieht aus wie die meisten Rationalen und Besonnenen unter all denjenigen, die ihn entthronen wollen. Aber es ist klar, dass er nicht derjenige sein wird, der uns zu einem großen Durchbruch führen wird.
Und dennoch gibt es keine Rechtfertigung für die Gefühle von Hilflosigkeit und Opferrolle, die im Augenblick die Straßen Israels säumen. Unsere aktuelle Situation ist keine “Tragödie”, sondern eher die Realität, in die Israels gewählte politische Führung, mit Rückendeckung der größten Mehrheit der jüdischen Wähler ,mit weit geöffneten Augen marschiert.
Die Karten sind immer noch in den Händen Israels und sie enthalten große Macht. Israel kann neue Friedensgespräche mit ein paar einfachen Gesten initiieren. Es kann sogar entscheiden, mit wem: mit der Fatah oder einer palästinensischen Einheitsregierung. Es kann eine internationale Koalition zusammenstellen, die es unterstützt – von den arabischen Staaten bis zur Türkei, Russland, den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union. Unseres ist eine der wenigen Probleme in der Welt, bei dem all diese Staaten äußerst gerne kooperieren. Israel könnte unilateral sein Militärregime in der Westbank aufheben. Zusammenfassend hat Israel einen ganze Reihe an Mitteln zur Verfügung, die – auf mittlere – oder lange Sicht fundamental die Beziehungen zwischen Juden und Arabern in diesem Land ändern könnten.
Aber das zu tun, bringt einen Preis mit sich: den Siedlungsbau zu beenden, Gefangene zu entlassen sowie den gesamten Rest der Schritte, die nicht nur die politische Führung, sondern auch die Mehrheit der jüdischen Öffentlichkeit im Augenblick sofort ablehnt.

(Übersetzt von Inga Gelsdorf)

[ Original in Englisch ]