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3. Februar 2022 - +972, Michael Sappir:

Warum schweigt Amnesty Deutschland zum Apartheid-Bericht?

Das Unbehagen von Amnesty Deutschland, den neuen Bericht über die israelische Apartheid zu veröffentlichen, wirft ein Schlaglicht auf den traurigen Zustand des Menschenrechtsdiskurses im Lande.

Am Dienstag beteiligte sich die deutsche Sektion von Amnesty International an der Veröffentlichung des neuen Berichts der Organisation, in dem Israel beschuldigt wird, das Verbrechen der Apartheid gegen Palästinenser zu begehen, wenn auch mit Vorbehalten. Nur einen Tag später wurde die Ankündigung des Berichts von der Website der Organisation gelöscht, so dass auf Deutsch nur noch ein separater Überblick auf der Website der österreichischen Sektion verfügbar ist.

Auf der Website der deutschen Sektion findet sich zwar noch eine Überschrift im Nachrichtenbereich, die auf den Bericht verweist, doch führt diese nun auf die Homepage der internationalen Version des Berichts. Die nun gelöschte deutsche Ankündigung (die zwischengespeichert wurde und hier weiterhin abrufbar ist) beginnt mit einer eher allgemeinen Beschreibung des Berichts, in der Amnesty die Anerkennung des Staates Israel und dessen Recht und Verpflichtung nach internationalem Recht, Israelis zu schützen, betont. Abschließend ruft Amnesty International die Palästinensische Autonomiebehörde und die Hamas dazu auf, ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen einzuhalten - obwohl beide auf der Kampagnenseite nicht erwähnt werden.

Es folgt ein noch ungewöhnlicherer Haftungsausschluss, den ich hier vollständig übersetzt habe:

Die systematische Ausrottung der jüdischen Bevölkerung wurde in Deutschland geplant und durchgeführt. Der Antisemitismus in Deutschland - gewalttätige Übergriffe, Sachbeschädigungen und Verschwörungsideologien - ist immer noch präsent und auf einem beunruhigenden Höchststand. Daraus ergibt sich für die deutsche Sektion von Amnesty eine besondere Verantwortung. Im aktuellen und historischen nationalen Kontext ist eine sachliche, faktenbasierte Debatte über die im Bericht vorgenommene Einordnung schwierig. Um der Gefahr einer Instrumentalisierung oder Fehlinterpretation des Berichts entgegenzuwirken, wird die deutsche Sektion von Amnesty keine Aktivitäten im Zusammenhang mit diesem Bericht planen oder durchführen.

Diese Kontextualisierung ist sicherlich merkwürdig, wenn auch im deutschen Kontext nicht ungewohnt. Wirklich bizarr wird es in den letzten beiden Sätzen, in denen eine Vorgehensweise beschrieben wird, die der vorgeschlagenen Argumentation diametral entgegengesetzt zu sein scheint: "[Um] der Gefahr der Instrumentalisierung oder Fehlinterpretation entgegenzuwirken, wird Amnesty ... keine Aktivitäten zu diesem Bericht durchführen." Da die Ortsgruppe den Bedarf an einer substanziellen Debatte erkannte und befürchtete, dass der Bericht in Deutschland falsch interpretiert werden könnte, beschloss sie, sich einfach zurückzuhalten und nichts zu unternehmen.

Obwohl die Erklärung in der Sprache der Verantwortung verpackt ist, ist sie in Wirklichkeit nichts weniger als eine völlige Abkehr von eben dieser Verantwortung. Und obwohl er sich als Verteidigung des jüdischen Volkes ausgibt, wirkt der Disclaimer wie eine Verteidigung der deutschen Befindlichkeiten.

Amnesty Deutschland hat Recht, wenn es sich davor hütet, antisemitischen Verschwörungsideologien Nahrung zu geben. Doch wie würde eine Person, die zu antisemitischer Paranoia neigt, die Erklärung und ihren Widerruf interpretieren? Er würde sehen, dass vermeintliche Antisemitismus-Bedenken sogar für bloße faktenbasierte Kritik an der israelischen Politik gelten, dass darüber nicht offen gesprochen werden kann, und - was am schlimmsten ist - wie schnell solche Kritik auf mysteriöse Weise aus den Akten getilgt wird.

Von einer Organisation wie Amnesty würde man erwarten, dass sie, wenn sie sich mit den Bedenken über die mögliche Interpretation des Berichts befasst, aktiv daran arbeitet, die Diskussion über den Bericht zu gestalten. Tatsächlich deutet der Disclaimer darauf hin, dass die deutsche Sektion darüber nachgedacht hat, was nötig wäre, um die internationale Veröffentlichung des Berichts verantwortungsvoll zu begleiten - "eine objektive, faktenbasierte Debatte über die im Bericht vorgenommene Einstufung" -, sich jedoch entschieden hat, dies nicht zu tun, vermutlich weil es "schwierig" wäre.

Anstatt im gleichen Atemzug für die Menschenrechte der Palästinenser und gegen Antisemitismus zu kämpfen, kündigte die deutsche Sektion beschämend ihren Rückzug aus der Debatte über den Bericht an und überließ damit das Feld der "Instrumentalisierung oder Fehlinterpretation" - also genau dem, dem sie entgegenzuwirken hoffte.

Die Verteidigung der Menschenrechte der Palästinenser in Deutschland hat allerdings ihren Preis. Sie wird von Mainstream-Politikern und -Medien reflexartig des Antisemitismus bezichtigt, was ausreichen kann, um die Karriere einer Person zu beenden oder einer Gruppe den Zugang zu öffentlichen Mitteln und Räumen zu verwehren. Man kann sich vorstellen, dass die nationale Führung von Amnesty International die Situation bewertet und zu dem Schluss kommt, dass sie es sich aufgrund des feindseligen politischen Klimas in Deutschland einfach nicht leisten kann, den Bericht aktiv zu fördern.

Aber leider ist es genauso wahrscheinlich, dass Amnesty Deutschland von vornherein gar nicht dazu geneigt war, sich für die Rechte der Palästinenser einzusetzen, oder dass die Führung wusste, dass ihre Mitglieder dazu nicht motiviert sein würden. Schließlich ist "fortschrittlich außer Palästina" in deutschen linksliberalen Kreisen die erbärmliche Norm.

Dieser beschämende Vorfall macht deutlich, wie schlecht es um die Menschenrechte in Deutschland bestellt ist. In diesem Land kann selbst eine große internationale Organisation, die sich angeblich für die Rechte aller Menschen überall einsetzt, nicht umhin, die Rechte der Palästinenser beiseite zu lassen.

Die Rechte der Palästinenser zu opfern, scheint der Preis für öffentliche Legitimität in Deutschland zu sein. Doch Aktivisten wie die von Amnesty sind weder Opfer noch passive Teilnehmer an dieser Travestie. Dieser Zustand hält zum Teil deshalb an, weil selbst sie nur allzu bereit sind, diesen Preis weiter zu zahlen. Diejenigen, die den höchsten Preis zahlen, sind die Palästinenser, die die Strafe für die historischen Verbrechen Deutschlands unter der israelischen Apartheid tragen müssen - mit unerschütterlicher deutscher Unterstützung.

Michael Sappir ist ein linker Autor und Organisator aus Israel, der in Leipzig lebt. Er studiert Philosophie und schreibt eine regelmäßige Kolumne auf Local Call. Twitter: @msappir.