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16. März 2022 - Hans-Jürgen Kleine:

Interessen der Ukrainischen Bevölkerung
- Ein Beitrag zur Frage der sozialen Beziehungen im Krieg

"Die" Ukraine ist als Staat natürlich völkerrechtlich im Recht. Nichtsdesoweniger müssen wir analytisch von einem Klassenstaat ausgehen, in dem sich Besitzende (Produktionsmittel, Geld, Machtapparat) und abhängige Lohnempfänger*innen, ihre objektiven Interessen betreffend, entgegenstehen.
Daher die Lust der Mächtigen, sich der EU und der NATO anzuschließen, was sie über die von ihnen beherrschten Medien in die Ohren und Augen (Bilder vom vorgeblich glücklichen "Consumerism" der Massen in den reichen EU-Staaten) der Ukrainer*innen transportieren.

Die ukrainischen Eliten entspringen wie die russischen dem ehemaligen stalinistischen Parteiapparat. Weil sie im gewendeten "Sozialismus" an der Quelle saßen, konnten sie sich rasch bereichern. Die Masse ging nicht ganz leer aus, der Lebensstandard scheint deutlich gestiegen. Die Oligarchen (hier im Westen heißen sie einfach "Milliardäre" oder "Superreiche", sind aber moralisch keinen Deut besser als Abramowitsch, Poroschenko & Co. - wer hat wohl Amerikas Kriege kräftig mitfinanziert?) sind nur ein Teil der neuen Ost-Bourgeoisie, die im Wesentlichen in drei Fraktionen aufgeteilt ist: Die staatskapitalistische Klasse, die privatkapitalistische Klasse und das Militär, das seine Aktien in beiden Sektoren hat und von ihnen profitiert.
Der Staatspräsident an der Spitze hält das Kräftegleichgewicht als scheinbar neutraler Schiedsrichter von der zentralen Stelle der Macht aus im ungefähren Gleichgewicht, was gegenüber der ökonomisch abhängigen Klasse Zugeständnisse erfordert (Löhne und Renten, von denen die meisten leben können, auf unterschiedlichem Niveau). Sozialist*innen sprechen hier von Bonapartismus als Regierungsform. Die außerordentlichen Befugnisse des Staatspräsidenten Selensky in der Ukraine und Putins in Russland ermöglichen wie in einem von oben gelenkten Marionettentheater den Interessensausgleich zwischen Oben und Unten, aber auch zwischen den konkurrierenden Fraktionen des obigen Bürgertums (der drei Elitenklassen). In der Regel muss ein solcher "Bonaparte" keine Gewalt anwenden, um den Klassenfrieden zu erhalten. So hat Putin lange Zeit große Sympathien in der russischen Bevölkerung genossen. Poroschenko aber stürzte, weil er die schützende Hand zu lange über der Korruption hielt, mit der Unternehmer, groß und klein, an Aufträge und Investitionen gelangten. Nicht von ungefähr kam Selensky daher als den Massen bekanntes Gesicht als Schauspieler, der vom Geruch der Korruption befreit war, an seine Stimmen. Der etwas geheilte Kapitalismus der Ukraine bleibt aber nichtsdestoweniger ein Kapitalismus. Für den Westen sogar ein strategisch wichtiger aufgrund seiner Schlüsselposition an der Südostflanke der NATO und am Schwarzen Meer, dem Südtor nach Russland, nahe am NATO-Partner Türkei und in Richtung zentralasiatische Republiken.

In einem Klassenstaat, das haben wir von Marx und den modernen Nachfolge-Sozialist*innen gelernt, verfolgen in einem Krieg nie beide Hauptklassen die gleichen Interessen: Das ukrainische Regime will in die EU, die besitzende Klasse strebt nach dem EU-Regionalfonds und einer sie begünstigenden Steuerpolitik, mithilfe der sie Steuern hinterziehen, umgehen und "rechtsstaatlich" sparen können. Außerdem wollen sie hundertprozentige militärische Sicherheit für ihr Ausbeutungssystem. Mit der Agrarreform hat vor wenigen Jahren die Regierung dem westlichen Agrobusiness die Tore mittels einer weitgehenden Liberalisierung geöffnet. Westliche Großagrarier wurden schon lange vor dem Maidan von den ersten Epigonen des Stalinismus als Investoren angelockt und konnten Zehntausende Hektar Staatsland zu Schleuderpreisen und Niedrigpachtzins erwerben und bewirtschaften. Bauern und die arbeitende ukrainische Bevölkerung haben ökonomisch vom EU-Beitritt (und auch ohne die EU) nichts, im Gegenteil, die Entstehung einer breiten Mittelschicht durch Teilhabe am Ausplünderungsprozess der EU im globalen Süden und Afrika (über EPAs, CETA, EU-MERCOSUR, EUSFTA ... ) würde eine gerechtere soziale Angleichung aller eher verhindern und soziale Hierarchien fördern, am unteren Ende eine Klasse der Super-Armen erzeugen. Die Losung der "Verteidigung der Ukraine" als gemeinsamer Staat verkleistert diese Verhältnisse und instrumentalisiert die Masse der Menschen für einen Klassenkrieg zwischen den herrschenden Eliten zweier militärisch und ökonomisch ungleicher Länder. Wir haben es genau genommen nicht mit einem Krieg der Ukraine mit Russland zu tun, sondern mit einem Stellvertreterkrieg zwischen dem mit dem Imperialismus der USA verbundenen EU-Imperialismus und Russland, der auf dem Boden der Ukraine ausgetragen wird.

In einem solchen Krieg können Linke nicht Partei für die eine oder andere Seite ergreifen, sondern müssen sich neutral positionieren: Sich nicht auf die Seite der EU schlagen, aber auch nicht auf die Seite des Kreml. Jeder Einmischung des imperialistischen Westens in diesen Krieg ist eine Absage zu erteilen, sowohl auf der Ebene der Waffenlieferungen als auch auf der Ebene der Wirtschaftssanktionen. Letztere treffen in erster Linie die russische Zivilbevölkerung, das Oligarchenregime wird Mittel und Wegefinden, und sei es unter erheblichen Verlusten ihrer Pfründe, einen Großteil seines Vermögens bis nach dem Krieg zu verstecken, um es dann wieder auf den Markt zu werfen.

Ich werde gefragt werden: Soll die ukrainische Armee kapitulieren oder sich von den Barbaren im russischen Generalstab einfach abschlachten lassen?
Die Antwort ist nicht eindeutig, es gibt mehrere Möglichkeiten: Die Soldaten sind keine Unternehmer und keine Oligarchen, sie sind in der Masse einfache Menschen, Lohnabhängige, Arbeitnehmer*innen, teils auch Akademiker*innen. Sie können (unter Lebensgefahr) desertieren. Sie können, wie die russischen Soldaten 1917, die Waffen fallen lassen und sich ergeben. Sie können rebellieren und von ihren Vorgesetzten fordern, die Waffen sofort schweigen zu lassen, was einer Kapitulation gleichkäme.
Wäre eine Kapitulation, wie sie in die Diskussion gebracht wurde, so schlimm? Ich meine nicht. Tausende, Abertausende Opfer könnten so vermieden werden. Wir müssen vom alten militaristischen Denken wegkommen, dass Waffengewalt immer nur mit Waffengewalt begegnet werden muss.
Ist es nicht besser, wenn Russland auf diese Weise zwar militärisch "siegt", danach aber die Chance auf Verhandlungen über den Status des Landes und neue Grenzen gegeben ist, die eine Lösung des kleineren Übels ergeben?
Das würde garantieren, dass der Krieg nicht in eine direkte NATO-Intervention in der Ukraine mündet, die unterhalb der Schwelle eines nuklearen Krieges oder eines Kriegs mit Chemie- und Biowaffen beginnt und die Gefahr birgt, dass sie zum Einsatz taktischer Atomwaffen (erst vor Ort, dann womöglich in Russland und der EU) eskaliert? Und beim reziproken Einsatz strategischer Atomwaffen im Armageddon endet, Jahrzehnte vor dem vollständigen Klimakollaps, der das gleiche Elend hervorriefe?

Mein Plädoyer gilt der Aktivierung der UNO. Eine massive Intervention von Blauhelmen (100.000 gut ausgebildete Männer und Frauen aus allen Kontinenten und aller drei Waffengattungen) unter dem Oberkommando des Generalsekretärs (niemals unter US- oder NATO-Kommando) erübrigt m.E. mit einiger Wahrscheinlichkeit die gefährlichen Waffenlieferungen der NATO an die Ukraine. Sie könnte der leidenden Zivilbevölkerung, die nicht fliehen kann oder will, viel mehr helfen als das militaristische Geschrei der Scharfmacher-Diplomatenclique des ukrainischen Präsidenten.

Von der zutiefst diskriminierenden, ethnozentristischen Innen- und Minderheitenpolitik der ukrainischen Regierungen ab 2014 haben wir hier noch gar nicht gesprochen. Und um nicht als Putin-Freund abgestempelt zu werden: Ich bin für eine soziale Revolte in Russland, die nicht nur Putin stürzt, sondern eine vollständige sozial-ökologische Transformation vollzieht. Hin zu einer Postwachstumsgesellschaft, die allen Russinnen und Russen ein gutes Leben im Einklang mit ihrer in großen Teilen (noch) wunderschönen Natur. Nur gönne ich es dem raffgierigen westlichen Imperialismus nicht, dass er den Menschen in Russland zuvorkommt.