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18. November 2012 - Luz Maria de Stefano de Lenkait:

Die letzten russisch-deutschen Regierungskonsultationen in Moskau mit dem dortigen Empfang der Bundeskanzlerin und ihre Erklärung haben einiges Aufsehen erregt, Anlass zu folgender Stellungnahme zu 

 

Süddeutsche Zeitung (SZ) vom 16.11.2012, Leitartikel: 

"Merkel in Moskau - Unehrliche Freundschaft" 

und SZ vom 17.11.2012: "Ja, wir haben Fragen", beide von Daniel Brössler

 

Das Privileg einer unabhängigen Außenpolitik

 

Der Begriff Freundschaft ist unter Regierungen oder Staaten fehl am Platz. Freundschaft bezieht sich immer auf Menschen; sie findet unter Personen statt, nicht aber unter Staaten, nicht zwischen unterschiedlichen Regierungen, noch dazu wenn sie unterschiedliche Auffassungen, Weltanschauungen und Interessen haben. Die internationalen Beziehungen halten sich deshalb an Regeln, internationale Regeln, die vor allem den Respekt untereinander vorschreiben. Demokratie als Regierungsform ist auch keine Voraussetzung für normale internationale Beziehungen unter Staaten und Völkern. Deshalb setzt die Charta der Vereinten Nationen sie nicht voraus, um Mitglied der Völkergemeinschaft zu sein. Das ist schwer in Deutschland zu verstehen, wo man dazu neigt, in einer Haltung von Überlegenheit respektlos und arrogant über andere zu bestimmen, wie ein Schulmeister auf andere mit dem Finger zu zeigen und zu erklären, wo der Weg entlang gehen soll. Dieser deplatzierte Hochmut erlaubt sich Berlin gegenüber Moskau, nicht aber gegenüber Washington. Warum? Deutschland bleibt US-Protektorat und ordnet sich deshalb bedenkenlos unter das US-Diktat. Nicht aber Russland.

 Russland ist ein souveräner Staat mit einer tausendjährigen Geschichte, die ihm zeigt, wie wichtig es ist, wachsam zu bleiben, um verheerende Einmischung aus dem Ausland zu verhindern. Russland kann es sich nicht leisten, sich destabilisieren zu lassen. Schon die Sowjetunion erlebte eine aus dem Ausland gezielt geförderte Destabilisierung bis zur völligen Desintegration und zum Zusammenbruch. Präsident Wladimir Putin ist sich darüber vollkommen im Klaren und wird sich einem erneuten ähnlichen Versuch entgegensetzen, wie es jeder verantwortliche wachsame Staatsmann im Interesse seines eigenen Landes mit allen Mitteln der Gesetzgebung auch tun würde.

 In diesem Zusammenhang ist es wichtig, nicht nur Fragen zu stellen, sondern vor allem zuhören zu können. Sonst ergibt sich ein Dialog zwischen Tauben. Der russische Vorsitzende des Dialogforums, Wiktor Subkow, traf diesbezüglich den Nagel auf den Kopf, als er bei seiner Begrüßungsrede die deutsche Delegation im Kreml darauf aufmerksam machte, es gebe erwünschte Kritik, die helfen wolle und unerwünschte Kritik "aus Unkenntnis". Diese Unkenntnis ist fast generell bei Verlautbarungen der deutschen Regierung und Medien über Russland zu beobachten. War die Bundeskanzlerin Angela Merkel imstande, richtig zuzuhören, als Präsident Wladimir Putin sie über den Hintergrund des skandalösen Verhaltens von Aktivistinnen in der Moskauer Christi-Erlöser-Kathedrale unterrichtet? Hörte Merkel gut zu? Eine der geschmacklosen Aktivistinnen habe eine "jüdische Vogelscheuche" aufgehängt und verkündet, dass diese Leute "raus aus Moskau" müssten. Antisemitismus könne man doch nicht dulden, erläutert der Präsident vollkommen richtig. Also seien die Aktivistinnen nicht nur wegen ihrer unzulässigen Anti-Putin-Kampagne in einer russisch-orthodoxen Kathedrale im Gefängnis gelandet, sondern auch wegen Rassenhass. (Aus dem Artikel von Daniel Brössler "Ja, wir haben Fragen" SZ vom 17.11.2012)

 Der deplatzierte öffentliche Wirbel, ja, das schlechte Theater bis zum medialen Zirkus um eine unzulässige Kritik von Angela Merkel an den funktionierenden russischen Institutionen geschah wohl kalkuliert. Es verfolgte den Zweck, das wichtigste außenpolitische Anliegen Russlands vor der deutschen Öffentlichkeit unter den Teppich zu kehren, und zwar die begründete russische Position in der Syrien-Frage und in der Nahost-Politik überhaupt. Angela Merkel degradierte sich als Postbotin ihrer kleinkarierten CDU-Partei, die völlig unsinnig eine Bundestagsentschließung zu Russland im Vorfeld der Reise arrangierte. Daher fühlte sich die Bundeskanzlerin zu einer entsprechenden Manifestation in Russland gezwungen. Sie wollte sich wohl keine weiteren Stiche aus diesem schäbigen CDU-Wespennetz zuziehen, wo anti-russische Ressentiments lebhaft agitieren. Ihre Worte nach dem Treffen klären die unerwünschte undiplomatische Situation, in die sie würdelos durch ihre Partei in Moskau gebracht wurde: "...die vom Bundestag monierten Gesetze seien ... angesprochen worden. Niemand soll sagen können, sie habe den Auftrag der Parlamentarier nicht erfüllt." Dieser Gruß aus Moskau an die CDU von Angela Merkel trägt gewiss dazu bei, ihren undiplomatischen geschmacklosen Auftritt im Kreml zu entschuldigen, denn eine erfahrene russische Führung ist längst und ausführlich über die erbärmliche interne Lage der CDU informiert. Nicht zu vergessen, dass Angela Merkel ein Studium in Moskau absolvierte und die russische Sprache beherrscht, was sicherlich die nötige Kommunikation mit dem Kreml erleichtert. Zwischen dem Präsidenten Wladimir Putin und der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel gab es zudem eine frühere, schöne persönliche Begegnung in der Datscha des Präsidenten in Sotschi. Das hübsche harmonische Photo von jenem Treffen, auf dem auch der Hund des Präsidenten zu sehen ist, wie er sanft in der Nähe der beiden liegt, spricht für eine persönliche Freundschaft, die sich entwickeln kann. Auf einer konstruktiven Basis, vor allem im beiderseitigen Einverständnis in wichtigen außenpolitischen Angelegenheiten, was Europa zum Wohle des Weltfriedens bitter nötig hat. 

 Deutschland und Europa müssen die klare manifestierte Stellungnahme und Sichtweise Russlands akzeptieren. Der Leiter des Auswärtigen Ausschusses der Duma hat die Sichtweise Russlands in aller Deutlichkeit der deutschen Delegation erklärt. Hat die deutsche Öffentlichkeit sie vernommen? „Die USA und Europa haben aufgehört, Beispiele für uns zu sein. Wir haben in den USA gerade das Wählermänner System gesehen und verstanden, dass dies kein demokratisches System ist." (SZ vom 16.11.2012) Über die Innenpolitik eines souveränen Landes zu urteilen, fällt nicht in die Zuständigkeit eines fremden Regierungsoberhaupts, weniger noch in den Kompetenzbereich eines Außenministers. Man kann sie mögen oder nicht, man kann sie verstehen oder nicht, aber man muss sie akzeptieren und respektieren, soll es gute Beziehungen zwischen Staaten mit unterschiedlichen Systemen geben. Wie sich eine Zivilgesellschaft entwickelt und funktioniert, hängt von der Zivilkultur der Gesellschaft ab. Die Russen verzichten auf jede berechtigte Kritik über die braunen Attentate gegen Menschen in Deutschland, sie verzichten auf jede berechtigte Kritik des Rechtsextremismus, der dieses Land schändlich brandmarkt. Sie verzichten zu Recht darauf, weil es Sache der Deutschen ist, damit fertig zu werden durch Rechtsinstitutionen, die sich funktionsfähig zeigen sollten. Die Duma hat sich deshalb nicht mit diesem extrem abstoßenden deutschen Problem befasst und darüber keine Entschließung verabschiedet.

 Die deutsche Bundesregierung, der deutsche Bundestag und deutsche Medien können von der zutiefst humanen Überlegung von Fjodor Dostojewski viel lernen: Was könne eine Institution allein anfangen, fragte sich Fjodor Dostojewski in seinem Tagebuch eines Schriftstellers 1880. Er schreibt sinngemäß weiter: "Wenn es Brüder gibt, gibt es auch Bruderschaft. Aber wenn es die Brüder nicht gibt, kann niemals aus einer Institution Bruderschaft erwachsen. Wohin würde es dann führen eine Institution zu gründen und ihr das Motto Liberté, Egalité, Fraternité zu geben? Mit einer solchen zivilen Institution würde man überhaupt nichts erreichen." Hinter diesen Gedanken steht lebendig die feste christliche Überzeugung von Fjodor Dostojewski, seine christlichen humanen Werte, die Europa durch einen ungezügelten Materialismus und Egozentrismus verraten hat.

 Von einer Annäherung an den Westen ist beim Kreml-Chef längst keine Rede mehr. Unter Präsident Wladimir Putin ist eher eine Korrektur der russischen Außenpolitik zu beobachten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion führte Andrej Kosyrew das Moskauer Außenministerium. Nach Kosyrews Kurs sollte sich Russland so weit wie möglich den strategischen Interessen der USA unterordnen, genau wie es Deutschland bisher tut, in der Hoffnung, daraus Vorteile zu ziehen. 1996 wird der Orient-Experte Jewgenij Primakov Außenminister. Er betonte „russische Interessen" und sprach von einer "multipolaren Welt", in der die USA nicht die alleinige Großmacht seien. Diese Außenpolitik setzte auch Primakow-Nachfolger Igor Iwanow 1998 fort.

Im November 2003 kehrte sich der autoritär regierende georgische Präsident Michail Saakaschwili gegen den pro-russischen Kurs seines Vorgängers Edward Schewardnadse. Mit Unterstützung neokonservativer Hardliner in den USA und Europa ging der untragbare neue georgische Präsident Saakaschwili auf Konfrontationskurs gegenüber Russland.

Im März 2004 nominierte Präsident Putin den Karrierediplomaten Sergej Lawrow als Außenminister, ein geschickter Profi. Der Wendepunkt in der neuen russischen Außenpolitik markiert Putins Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz im Februar 2007, die eine sachliche Bewertung in der New York Times verdiente, nicht aber in der führenden deutschen Presse, schon gar nicht in der Süddeutschen Zeitung. Die militärischen Interventionen der USA seit dem Irak-Krieg wurden von Russlands Präsident hart kritisiert. „Die Vereinigten Staaten“, so Putin, „überschreiten ihre nationalen Grenzen in allen Sphären, in der Wirtschaft, der Politik und im humanitären Bereich. Nur wem gefällt das?"

Derselbe Leitartikel-Schreiber Daniel Brössler war damals nicht in der Lage, die Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin im heutigen internationalen Kontext sachlich zu begreifen, nämlich eine internationale Politik unter der Dominanz des Gewaltfaktors. Dazu fehlt ihm die Bildung im Völkerrecht und menschliche Sensibilität. Die Gefahr der heutigen internationalen Lage unter der Dominanz einer Hypermacht muss realistisch bewertet werden. So schlimm diese Realität ist, so inakzeptabel ist sie für einen europäischen Staatsmann mit großem Format wie Wladimir Putin, der von Europa und von der Welt anderes will, nämlich die Herrschaft zivilisierter Normen, die das Miteinander unter Staaten und Nationen regieren sollen, insbesondere wenn die mächtigste Nation der Welt die Demontage der internationalen Rechtsordnung ständig befördert. 

Journalisten wie Daniel Brössler sind nicht bereit, sich mit dieser hässlichen Wahrheit zu befassen, eine Wahrheit, die ganz Europa vor Augen hat und sieht, die aber nur ein russischer Staatsmann wagt bloßzustellen. Viele Politiker aus den großen Volksparteien, aber auch bei den Grünen erschrecken vielleicht wirklich vor einer staatsmännischen Rede eines europäischen Präsidenten, der den westlichen Hegemonialblock, ohne Maske, ohne Schminke als Verfechter nackter Gewaltpolitik bloßstellt. Wahrscheinlich dämmert ihnen langsam, welche ungeheuerlichen Ausmaße diese völkerrechtswidrige Gewaltpolitik erreicht und welchen Schaden sie verursacht, und selbstverständlich bekommen sie Angst davor, dieser Schreckenspolitik hemmungslos gefolgt zu sein. Solche Individuen gehören nicht zum politischen Denken Europas oder zum politischen Entscheidungsfeld, weil sie weder kompetent noch gewissenhaft darin arbeiten können.

Russland sei „ein Land mit einer mehr als tausendjährigen Geschichte und nutzte fast immer das Privileg einer unabhängigen Außenpolitik". Anfang 2007 beklagte Außenminister Sergej Lawrow eine westliche „Siegermentalität" nach dem Ende des Kalten Kriegs und betonte, sein Land wolle keineswegs „ständig bei der EU um etwas betteln" (im Spiegel-Gespräch Anfang 2007).

Die Stellungnahme Russlands stößt auf eklatantes Unverständnis in einem US-Protektorat wie Deutschland, wo sich die Machtcliquen immer wieder verpflichtet glauben, ihre würdelose Abhängigkeit von der USA unehrlich zu demonstrieren. Der russische Präsident hat dem Westen von Anfang an klar gemacht, dass sein Land auf politische Schritte, die es als feindselig beurteilt, reagieren werde. Doch in den USA wurden diese Warnungen unter den Neokonservativen ignoriert, mehr noch, Washington drängte seine Verbündeten dazu, sich in mehreren politisch heiklen Fragen den amerikanischen Entscheidungen zu unterwerfen. Das gilt etwa für die Stationierung von Raketen und den dazu gehörigen Radaranlagen auf europäischem Territorium, für die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo und für die Frage des Beitritts von Georgien und der Ukraine in die NATO. Die letzte Frage wurde allerdings auf dem letzten NATO-Gipfel nochmals vertagt.

Eine erhebliche Störung des fragilen Machtgleichgewichts bedeutete die Militäroperation Georgiens vom 7.8.2008, mit der die autoritäre Regierung Saakaschwilli die Kontrolle über Südossetien und Abchasien zurückgewinnen wollte. Auf diesen Versuch reagierte Russland tags darauf mit einem massiven Gegenschlag. Dadurch gelang es für die Staaten Südossetien und Abchasien, die nach dem Ende der Sowjetunion in äußerst umkämpften Sezessionskriegen mit Georgien entstanden waren und international umstritten sind, sich eine fortdauernde Unabhängigkeit zu sichern, die von Moskau unter Hinweis auf den Präzedenzfall Kosovo am 26.8.2008 anerkannt wurde. Das bedeutete auch eine klare Botschaft an den Westen: Unternehmt nichts in der Nähe unserer Grenzen, was ihr umgekehrt nicht an euren Grenzen erleben wollt. Als innerhalb der EU oder von Washington aus Sanktionen gegen Russland gefordert wurden, ließ die Regierung im Kreml verlautbaren, dass sie sich vor einer Isolierung nicht fürchte. Die Öl- und Gasexporte in den Westen und die Weltoffenheit der russischen Gesellschaft machen es jedoch eher unwahrscheinlich, dass die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen abermals erstarren. Nach der Niederlage für die international vernetzte reaktionär-neoliberale Fraktion in der US-Präsidentschaftswahl (6.11.) ist es zumal zu erwarten, dass die wiedergewählte US-Regierung, wie von US-Präsident Obama bereits signalisiert, die russischen Interessen respektieren werde.

Die neue russische Außenpolitik weist nach Asien hin. Kasachstan als Teil einer „Eurasischen Union" mit Weißrussland und Russland, die wachsen soll, möglichst gemeinsam mit der Ukraine. Auch Tadschikistan und Kirgisien, wo Russland Militärbasen unterhält, sollen sich an der Eurasischen Union beteiligen. Ziel sei die Schaffung einer gemeinsamen Währung, so Putin. Von den Integrationsprozessen ehemaliger Sowjetrepubliken ist die Rede als einer „Schlüsselrichtung" der Außenpolitik. Und von einem „strategischen Zusammenwirken mit China". Die Hinweise aus dem Kreml bedeuten die demonstrative Abkehr vom Versuch einer Annäherung an den Westen, den Putins Vorgänger Boris Jelzin ab 1991 unternommen hatte. Die seitdem verhängnisvolle westliche Tendenz, in das post-sowjetische Zentralasien einzudringen, will Moskau stoppen. Gemeinsam mit Peking soll das Eindringen der USA in ihr Einflussgebiet verhindert werden. Wird man in Deutschland langsam wach und Verständnis dafür aufbringen? 

Luz María De Stéfano Zuloaga de Lenkait