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7. April 2014 - Martin Breidert:

Sehr geehrter Herr Chaim Schneider,

auf Ihre Mail vom 7.4.2014 möchte ich Folgendes antworten:

Der ärgste Feind des Staates Israel ist das Internet. Viele Menschen wissen es inzwischen besser, als Ihre sogenannte ARD-"Doku" es glauben machen wollte. Auf Youtube sind viele Dokumentarvideos zu sehen, dokumentiert von israelischen (!) Menschenrechtsorganisationen, wie israelische Soldaten entschädigungslos Häuser zerstören, nächtliche Terrorrazzien durchführen (s. Berichte der israelischen (!) Soldatenorganisation „Breaking the Silence“), wie Palästinenser entschädigungslos ihres Landes und ihrer Ressourcen beraubt werden, wie die Palästinenser täglichen Schikanen ausgesetzt sind, und das alles trotz der IV. Genfer Konvention, trotz humanitärem Völkerrecht, trotz der EU-Leitlinien vom 19.7.2013, wonach die besetzten und annektierten Gebiete völkerrechtlich nicht zum israelischen Staatsgebiet gehören. Keine Regierung, nicht einmal die USA, unterhalten in Ostjerusalem ein Konsulat. Wie soll es Verständigung und erfolgreiche Friedensverhandlungen geben, wenn zur gleichen Zeit die israelische Regierung einen Ministerausschuss einsetzt, der die offizielle Annektierung des Jordantals vorbereitet? In Ihrer Sendung behaupteten Sie, Israel wolle Frieden. Welchen Frieden? Mit dem Jordan als Ostgrenze und einigen palästinensischen Homelands dazwischen, eingesperrt ähnlich wie der Gazastreifen? Was soll mit mehr als 4 Millionen Palästinensern im Westjordanland und im Gazastreifen geschehen, von den Menschen in den Flüchtlingslagern im Libanon und anderswo gar nicht zu reden? Die Menschen in den besetzten und annektierten Gebieten haben seit Jahrzehnten erlebt und erlitten, wie facts o the ground geschaffen wurden. Für sie ist der Punkt gekommen, wo sie sagen: Enough is enough.

Die israelische Besatzungs- und Annexionspolitik ist das Primäre, der Widerstand der Palästinenser, den Sie Terrorismus nennen, ist die Folge.

Was ist Terrorismus? War Nelson Mandela ein Friedenskämpfer oder ein Terrorist? Der Friedensnobelpreisträger hatte zeitweilig zum bewaffneten Kampf aufgerufen. Sind die Palästinenser, die im Westjordanland seit 47 Jahren als weithin Rechtlose und im Gazastreifen unter einer lebensbedrohlichen Blockade leiden, Widerstandskämpfer oder Terroristen, wenn sie gewaltsamen Widerstand gegen die Besatzung und Abriegelung leisten? War der israelische Ministerpräsident und Friedensnobelpreisträger Menachim Begin, der maßgeblich an dem Anschlag auf das Jerusalemer King- David-Hotel mit mehr als 90 Toten beteiligt war, ein zionistischer Held oder ein Terrorist? Waren die Menschen, die den Aufstand im Warschauer Ghetto organisierten, Terroristen oder Freiheitskämpfer? War Willy Brandt, als er in Norwegen gegen die deutsche Wehrmacht kämpfte, ein Terrorist oder ein Widerstandskämpfer? War Charles de Gaulle ein Terrorist, als er gegen die deutsche Besatzung zum Widerstand aufrief? War Gerry Adams, der in Nordirland die IRA befehligte, später das Karfreitags-Friedensabkommen aushandelte und schließlich für einen Sitz im britischen Unterhaus gewählt worden war, ein Terrorist oder ein Freiheitskämpfer? Auch wenn ich als Christ für Gewaltfreiheit eintrete, nehme ich zur Kenntnis, dass das Völkerrecht gewaltsamen Widerstand gegen eine Besatzungsmacht erlaubt.

Jizchak Rabin wurde nicht von einem palästinensischen Terroristen, sondern von einem Israeli ermordet. Nachdem der jüdische Arzt Baruch Goldstein 1994 in der Moschee von Hebron während des Freitagsgebets 29 muslimische Palästinenser erschossen und 150 verletzt hatte, begannen die palästinensischen Selbstmordattentate. Für Baruch Goldstein errichteten die Siedler von Hebron ein Denkmal mit der Inschrift: Er war ein gerechter und heiliger Mann, ein Märtyrer.

Sie sollten als Journalist sorgsamer mit dem Begriff Terrorismus umgehen, auch wenn ihn die israelischen Behörden in Orwell’scher Weise verdrehen, z.B. wenn sie die friedlichen Freitagsdemonstrationen in Bil’in gegen die völkerrechtswidrige Mauer (vgl. Gutachten des Internationalen Gerichtshofs vom 4. Juli 2004) als „gewaltlosen Terrorismus“ bezeichnen (zit. bei Stephane Hessel, "Empört Euch!", S. 19).

Ihr Filmbeitrag und noch mehr Ihre Mail verwechseln Ursache und Wirkung. Folge der Besatzung und der Blockade mit der ständigen Verletzung der Menschenrechte und des Völkerrechts ist der Widerstand der Palästinenser und der internationalen Zivilgesellschaft, die inzwischen immer erfolgreicher zum Boykott und zu Desinvestitionen aufruft.

Mit ingrimmigem Gruß

Martin Breidert