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9. Januar 2015 - Huffington Post, Michael Lerner:

Um die Pariser Journalisten trauern,
aber trotzdem die Heuchelei bemerken

Als Herausgeber eines progressiven, jüdischen und interreligiösen Magazins, das oft Ansichten wiedergegeben hat, die eine Verurteilung sowohl der Rechten als auch der Linken provoziert haben, hatte ich guten Grund, wegen der Ermordung der Journalistenkollegen in Paris besorgt zu sein. Da ich den Award zum „Magazin des Jahres“des Religion Newswriters-Verbandes in 2014 gewonnen habe und Kritik an Hamas Vorstößen, Israels Städte im letzten Sommer zu bombardieren,(auch wenn ich gleichermaßen Kritik an Israels Übergriffen gegen Zivilpersonen in Gaza) geübt habe, habe ich guten Grund, besorgt zu sein, ob diese Bekanntheit nicht die Chancen erhöht, als Angriffsziel islamistischer Extremisten zu dienen. Aber dann musste ich mich wieder über die Art und Weise wundern, in der das Massaker in Paris von den westlichen Medien dargestellt und umrahmt wurde, als entsetzliche Bedrohung für die westliche Zivilisation, für die Meinungs- und Pressefreiheit. Ich wunderte mich über die überhitzte Art dieser Darstellung. Ich brauchte nicht lange, um zu verstehen, wie problematisch dieses Framing wirklich ist.

Als mir rechte „pro-Israel“ Fanatiker wiederholt Morddrohungen gesandt haben, mein Haus physisch angriffen und auf die Tore Äußerungen über mich malten: ich sei „ein Nazi“ oder „ein selbsthassender Jude“ und zu Bombendrohungen gegen Tikkun, das Magazin, das ich herausgebe, aufriefen, wurde dieser Tatsache von den Medien keinerlei Beachtung geschenkt, keine Schreie: „Unsere Zivilisation hängt von der Pressefreiheit ab“, oder Aufforderungen, diejenigen, die darin verwickelt sind, zu jagen (der FBI und die Polizei erhielten unsere Beschwerde, aber sie kamen nie auf uns zurück, um uns mitzuteilen, was sie unternommen haben, um uns zu schützen oder um die Angreifer zu finden). Auch der Mainstream oder die jüdischen Medien waren nicht besonders besorgt , dass die westliche Zivilisation zerstört würde oder die Meinungsfreiheit und die Gesellschaft unterminiert würde, wenn verschiedene Universitäten den Professoren, die sich kritisch über Israel geäußert hatten, eine Anstellung verwehrten, noch, wenn der Hillel-Verband, der eine Kette von „Hillel-Häusern“ für Studenten auf dem College-Campus betreibt, entschieden hat, alle Juden von ihrem Gelände zu verbannen, die Teil der Jüdischen Stimme für Frieden waren. Und die Medien zeigten auch kein großes Interesse für eine Bombe, die außerhalb des Hauptsitzes der NAACP (Menschenrechtsorganisation für ethnische Minderheiten) in Colorado Springs explodierte, an demselben Tag, an dem der Angriff in Paris im Fokus stand.

Colorado Springs ist die Heimat der meisten extrem-rechten Aktivisten. Es war ein weißer Mann mit schütterem Haar, der, wie einige Berichte behaupteten. beim Bombenlegen beobachtet wurde. Deshalb beschrieben die Medien dies als die Tat eines verwirrten „Einzelgängers“, anstatt als die eines weißen rechten christlich-fundamentalistischen Terroristen. Nur wenige Amerikaner hörten überhaupt etwas über diesen Vorfall. Und als die schrecklichen Morde an 12 Medienpersonen und die Verletzungen weiterer 12 Medienmitarbeiter zu einer gerechtfertigten Empörung in der ganzen Welt führten, haben Sie sich da nicht gewundert, weshalb es nicht eine ähnliche Empörung aufgrund der Zehntausenden von unschuldigen Zivilpersonen gegeben hatte, die durch die amerikanische Intervention im Irak getötet worden waren, oder aufgrund der mehr als eine Million getöteten Zivilpersonen, die von den USA in Vietnam getötet worden waren, oder weshalb Präsident Obama sich weigerte, die CIA-Folterer der meist muslimischen Gefangenen ihrer gerechten Strafe zuzuführen, und somit de facto zukünftigen Folterern die Botschaft vermittelt hat, ihre Taten noch nicht einmal bedauern zu müssen (in der Tat behauptete der frühere Vizepräsident Cheney verwegen, er erteile den Befehl zu dieser Art Folter, ohne auch nur zweimal darüber nachzudenken) ?

Deshalb, seien Sie nicht überrascht, wenn Menschen in der gesamten Welt, obwohl sie die abscheulichen Taten der Mörder in Paris verurteilen und mit den Familien und Freunden der Opfer trauern, im Hinblick auf den Medienzirkus, der diese besondere Empörung umgibt, ein wenig zynisch bleiben, weil die westlichen Medien schnell die selben verachtenswerten Taten systematischer Ermordung und Folter vergessen, in die westliche Länder verstrickt waren. Oder vielleicht sind sie (die Menschen) auch nur ein bisschen weniger überzeugt davon, dass die westliche Gesellschaft wirklich die größte Hoffnung für die Zivilisation ist, wenn sie diese Art der Hypocrisie billigt, anstatt genauso vehement auf alle Taten zu reagieren, die die Meinungs- oder Versammlungsfreiheit unterdrücken. Ich könnte mir gut vorstellen (und bedauere es), wie einige islamistische Fundamentalisten bereits auf diesen ethischen Widersprüche bei der Gesellschaft des Westens punkten in Bezug auf deren Prahlerei mit den Menschenrechten, die die selbsternannten „aufgeklärten Demokratien“ jedoch nie davon zurückhalten, gegen diese Rechte zu verstoßen, wenn sie realisieren, dass sie es sind, die angegriffen werden. Doch es gibt eine tiefere Ebene, auf der der Diskurs so unsinnig erscheint. Wie der Tikkun-Redakteur, Peter Gabel, betont hat, erkennen die Medien in keinster Hinsicht die entmenschlichende Art, mit der so viele von ihnen vorgehen, wer auch immer der vermeintliche bedrohliche „Andere“ des Tages ist.

Diese Medien waren empört über den Versuch einiger verbündeter nordkoreanischer Gruppen, Menschen einzuschüchtern, damit diese einen Film, der den Herrscher von Korea verhöhnt und dann plant, den derzeitigen (unmoralischen) Herrscher zu ermorden, nicht ansehen, aber die Medien hinterfragen nie, wie wir reagieren würden, wenn ein ähnlicher Film gemacht worden wäre, um den amerikanischen Präsidenten zu verhöhnen und zu ermorden.

Ähnlich haben die Medien sich geweigert, auch nur darüber nachzudenken, was es für einen französischen Muslim, der unter Muslimen lebt, die wirtschaftlich marginalisiert werden und als nichts anderes als Terroristen dargestellt werden, deren religiöse Kleidung in der Öffentlichkeit verboten ist und deren Religion erniedrigt wird, bedeutet, mit einem humoristischen Magazin konfrontiert zu werden, das das Einzige, was ihnen ein Gefühl der Gemeinschaft und einen höheren Sinn ihres Daseins vermittelt, nämlich Mohammed und die Religion, die er geschaffen hat, ins Lächerliche zieht.

Alleine schon diese Art Frage zu stellen, bedeutet, sich Vorwürfen auszusetzen, keine Rücksicht auf die Ermordeten zu nehmen oder Ausflüchte für die Mörder zu suchen. Aber keiner dieser Vorwürfe ist berechtigt. Ich fürchte diese fundamentalistischen Extremisten genau so wie die jüdischen Extremisten, die mein Leben bedroht haben, und genau so wie die christlichen Extremisten, die nun die Macht über den US-Kongress ausüben. Jegliche Form von Gewalt empört mich und macht mich krank. Doch die Gewalt ist eine unausweichliche Konsequenz einer Welt, die systematisch so viele Menschen entmenschlicht, die ein Gefühl der Ohnmacht und Verzweiflung haben und tief deprimiert sind, weil sie nirgendwo die Milch der Menschenliebe finden. (frei übersetzt)

Die Repräsentation des Bösen dominiert die Medien und wird zur Rechtfertigung unserer eigenen schlechten Taten. Und dieses Böse wurde ermöglicht, weil so viele unter uns die Augen abwenden und die Ohren verschließen gegenüber den Schreien der Unterdrückten. Die UN schätzt, dass einige 10 000 Kinder aufgrund mangelnder Ernährung an Hunger und Krankheit sterben werden, heute und an jedem anderen Tag im Jahr 2015. 2,5 Millionen leben von weniger als 2 US Dollar pro Tag, 1,5 Millionen von weniger als 1 US Dollar pro Tag.

Jeden Tag werden Tausende junger Frauen an die Prostitution verkauft oder tun dies „freiwillig“, um genügend Geld zu beschaffen, um ihren Familien zu helfen, sich zu ernähren. Weitere zehn Millionen arbeiten unter verheerenden Bedingungen in „Ausbeuterbetrieben“. Wenn einige von ihnen und einige, die ihre Lage kennen und darüber empört sind, sich an verschiedene Formen nationalistischer oder religiöser fundamentalistischer Extremisten wenden, so werden ihre gewalttätigen Aktionen mit Recht verurteilt. Aber auf das Schweigen bei der Gewalt, die strukturiert und eine weit verbreitete Folge der Kapitalglobalisierung ist, wird nur selten aufmerksam gemacht. Jeder von uns nimmt diese globale Realität in sein Unterbewusstsein auf, so wie wir die Gewalt, den Hass und das Erniedrigen anderer aufnehmen. Wir tolerieren diese Art endloser „put-downs“, die die „Humor-Magazine“(Karikatur-Magazine) und sogar angeblich liberale Comedians wie Bill Maher machen, ohne zu realisieren, wie viel Schaden all dies unserer Seele zufügt.

Die seelischen Folgen sind um uns herum sichtbar: Menschen, die daran verzweifeln, dass keiner sie versteht, wachsendes Misstrauen gegenüber anderen und ein Gefühl, das man niemandem richtig trauen kann. Eine kollektive und globale emotionale Depression führt dazu, dass sich so viele Menschen in sich zurückziehen, manchmal auf relativ harmlose Art, aber oft in einer Art und Weise, die die Möglichkeit nimmt, dass irgendeine humane Gemeinschaft entsteht, die mit den sozialen Problemen und den Umweltproblemen, mit denen die menschliche Rasse konfrontiert ist, umgehen könnte. Dadurch gibt man globalen Unternehmen und deren angeheuerten Geschützen (hired guns) in Medien und Politik die Freiheit, die Welt nach ihren eigenen Interessen zu führen, ohne Rücksicht auf das Wohlergehen anderer Völker oder auf die Umwelt. „Aber sie machen sich über die Religion von jedem, lustig, nicht nur über die der Muslime, also, ist es dann nicht fair?“, werden wir beschwichtigt. Aber diese Beschwichtigung ist nicht beruhigend.

Dass sie jeden verspotten, das ist genau das Problem!,… die allgemeine Erniedrigung und das Verspotten anderer ist destruktiv für jeden. Aber es ist natürlich nicht für alle gleichermaßen destruktiv, weil die Gefahr bei Menschen, die bereits wirtschaftlich und sozial marginalisiert sind, weit höher ist, dass dieses Erniedrigen ihnen einen Stachel versetzt anstatt dass sie sich darüber amüsieren.

“Und sollten nicht Meinungsfreiheit und die individuelle Freiheit des Menschen unsere höchsten Werte sein? Diese Werte sind gefährdet, wenn man Comedians eine Art Verantwortung abverlangt.“

Zwei Antworten:

  1. Nein, die individuelle Freiheit des Menschen ist nicht unser höchster Wert.
    Unser höchster Wert ist, Menschen mit Liebe, Freundlichkeit, Edelmut zu behandeln, sie zu respektieren und sie als Verkörperung des Heiligen und die Erde als segensreich anzusehen. Individuelle Freiheit ist eine Strategie, um diesen höchsten Wert zu fördern. Aber wenn diese Freiheit missbraucht wird (wie z. B. bei der Erniedrigung von Frauen, afrikanischen Amerikanern, Schwulen im öffentlichen Diskurs), bestehen wir oft darauf, dass ein Artikulator von Rassismus, Sexismus und Homophobie öffentlich gedemütigt wird (schalten ihn nicht aus, sondern setzen unsere Meinungsfreiheit ein, um seine vehement zu bekämpfen).
  2. Die freie Meinungsäußerung wird nicht vernichtet, wenn wir sie nutzen, um hasserfüllte oder demütigende Sprache zu marginalisieren. Deshalb lassen Sie uns die abfällige Sprache, einschließlich des abfälligen Humors, als das benennen, was es ist: ein Angriff auf die Würde des Menschen.

Nichts hiervon soll dazu dienen, die Trauer um die schrecklichen Morde in Paris einzustellen oder diese in irgendeiner Form zu entschuldigen. Aber es ist ein Grund, darüber nachzudenken, weshalb Medien nie differenziert über das berichten, was in unserer Welt geschieht.

RabbiLerner.tikkun@gmail.com


Rabbi Lerner ist Herausgeber des Tikkun-Magazins. www.tikkun.org,

Er ist Autor von 11 Büchern, einschließlich zwei nationale Bestsellern:
The Left Hand of God:
Unser Land aus dem religiösen Recht und der jüdischen Erneuerung wieder herausnehmen:
Ein Weg zur Heilung und Transformation.
Er begrüßt Ihre Mitwirkung bei dem Aufbau einer „Bewegung für Liebe und Gerechtigkeit“ in der Gesellschaft des Westens.


Original-Artikel (in Englisch) ]

übersetzt von Inga Gelsdorf