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30. Januar 2015 - Hermann Dierkes:

Bürgermeister der Stadt Neuss, Herrn Herbert Napp
m.d.B. um Weitergabe an die Fraktionen des Rates

Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
sehr geehrte Damen und Herren,

Die Absetzung der Vortragsreihe Nahost bei der Volkshochschule hat mich sehr betroffen gemacht, nicht zuletzt, weil der Fraktionsvorsitzende der LINKEN im Rat der Stadt Neuss sich mit Rücktrittsforderungen an Herrn Heide, Leiter Ihrer VHS, hervorgetan hat.

Kurz zu meiner Person: Ich war bis zur letzten Kommunalwahl drei Wahlperioden lang Mitglied des Rates der Stadt Duisburg, 14 Jahre lang Vorsitzender der Ratsfraktion der LINKEN bzw. ihrer Vorläufer, nach 30 Jahren Stahlindustrie inzwischen Rentner. Ich bin noch in der LINKEN aktiv, in der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft (DPG - in der übrigens auch Pax-Christi-Vertreter aktiv sind, die ich sehr schätze) und habe gute Verbindungen zur israelischen und palästinensischen Linken. Ich habe Israel/Palästina mehrmals bereist, mich neben Lateinamerika intensiv mit dem Thema befasst und schätze, ich weiß, wovon ich rede.

Zunächst einmal möchte ich Ihnen Dank sagen für die von der Volkshochschule vorgesehene Nahost-Reihe, sowohl thematisch als auch in Bezug auf die Referenten, die jetzt leider abgesetzt wurde. Ich begrüße ausdrücklich, dass von dienstlichen/disziplinarischen Maßnahmen gegen Herrn Heide lauf presseöffentlicher Auskunft des Bürgermeisters abgesehen wird. Ich halte es auch für vollkommen richtig, jetzt nicht mit Interessen geleitenden Vereinigungen das Vortrags-Programm zu überarbeiten - soweit diese Nachricht überhaupt zutraf. Nach welchen Kriterien und Themenstellungen sollte das denn überhaupt geschehen? Nach den üblichen Einwürfen der Lobby - wir sollten uns besser um Tibet kümmern, um die Frauendiskriminierung durch Hamas oder um das freundliche Einvernehmen des damaligen Muftis von Jerusalem mit Hitler? Mir ist nur ein Fall bekannt - Osnabrück - wo etwa die Deutsch-Israelische Gesellschaft (DIG) überhaupt bereit war, mit der DPG eine Podiumsdiskussion zu organisieren. Mir sind andererseits etliche Fälle bekannt, wo sowohl die DIG als auch jüdische Gemeinden es abgelehnt haben, an Diskussionsveranstaltungen oder Podien teilzunehmen, weil sie mit anderen (kritischen) Teilnehmern nicht einverstanden waren oder prinzipiell nicht mit ihnen diskutieren wollen. Hinzu kommt, dass es selbstverständlich fachliche Anforderungen an ReferentInnen geben muss.

Das Argument "mangelnder Ausgewogenheit" ist ein Standardargument dieser Art von Regierungs-/Staatslobbyismus, mit dem man auf scheinbar unverfängliche Weise versucht, seine Ziele durchzusetzen. Aus dieser Richtung handelt es sich um getarnte Zensurforderungen, wenn man nicht gleich offen mit dem rufmörderischen angeblichen "Antisemitismus" kommt. Auf diese Weise wurde in etlichen Städten die Nakba-Ausstellung verhindert, die die brutale Vertreibung von rd. 700.000 Palästinensern während der Gründungsphase des Staates Israel dokumentiert, wurden Vorträge z.B. des hervorragenden israelischen Historikers Ilan Pappe über die damit verbundene ethnische Säuberung verhindert und vieles Schlimme mehr. Auch die Düsseldorfer Lobby - die jetzt gegenüber Neuss erfolgreich war - hat es seinerzeit geschafft, dass dort die Nakba-Ausstellung verhindert wurde. Ich möchte nachdrücklich darauf hinweisen, dass von derartigen Störmanövern, Verleumdungen und Zensurmaßnahmen inzwischen auch immer mehr jüdische Kritiker der israelischen Regierungspolitik aus Wissenschaft, Politik und Gesellschaft betroffen sind. Das beweist zum einen, dass es sich um politische/historische Streitfragen handelt und Kritik nichts mit angeblichem Antisemitismus zu hat. Es zeigt zum anderen, wie unreflektiert inzwischen manche Maßnahmen dieser Art auch bei uns sind – gerade angesichts unserer historischen Verantwortung. Dass u.a. Prof. Rolf Verleger von Neuss ausgeladen wurde, ist aufschlussreich und empörend zugleich.

Ich spreche diesem Regierungs/Staatslobbyismus nicht seine grundsätzliche Berechtigung ab – aber es kann doch nicht sein, dass man ihm willfährig nachgibt. Ich kann nicht nachvollziehen, warum nicht klar war, von wem dieses Ansinnen auf Aussetzung der VHS-Reihe kam, wie es zu bewerten war und warum nicht anders darauf reagiert werden konnte.

Für diese Lobbypolitik werden nachweislich enorme Anstrengungen von Seiten des israelischen Aussenministeriums bzw. von "think tanks" (z.B. das Reut-Institut) unternommen. Und sie findet leider immer wieder Fürsprecher in unserer Politik, in Parteistiftungen usw. Dabei sind die Ziele so eindeutig: wahrheitsgemäße Aufklärung zu unterbinden, den Kampf der Palästinenser grundsätzlich als illegitim, terroristisch und antisemitisch zu diffamieren, das Leiden anderer Völker herabzusetzen und die vorherrschenden strategischen Interessen Israels über alles andere zu stellen, für deren Durchsetzung alles erlaubt sei. (Ich schreibe bewusst vorherrschend, weil ich viele Israelis kenne, die wohlverstandene Interessen ihres Landes völlig anders sehen). Es gibt leider im öffentlichen und politischen Diskurs der Bundesrepublik keinerlei "Ausgewogenheit", was die sog. Nahostfrage betrifft. Von daher begrüße ich jeden Versuch - auch einer VHS - dieses Thema sachlich und wissenschaftlich zu beleuchten und damit die Voraussetzungen für echte Meinungsbildung zu verbessern als Teil eines demokratischen Bildungswesens, als Teil demokratischer Öffentlichkeit.

Dieses offene oder uneingestandene Dogma - die Palästinenser (und andere) für den Völkermord der Nazis bezahlen zu lassen und ihnen eine menschenwürdige Zukunft in freier Selbstbestimmung abzuschneiden - kann von vernünftig und moralisch denkenden Menschen nicht (länger) akzeptiert werden. Das alles ist aus meiner Sicht sehr unredlich und es ist umso befremdlicher, wenn nicht empörend, wenn auch noch die deutsche Verantwortung für die Menschheitsverbrechen der Nazis bemüht wird. Aus den Menschheitsverbrechen der Nazis gibt es allerdings nur eine vorrangige Konsequenz: Das darf sich nie wiederholen, nirgends und gegen niemand. Stattdessen erleben wir eine - ich sage es deutlich - unerhörte Komplizenschaft - im Großen wie im Kleinen, oder auch nur Verwirrung und Feigheit, weil man die Auseinandersetzung scheut. Oder man unterwirft sich - einer sog. "Staatsräson" - einem vordemokratischen Polit-Monster, das sich zu Recht nicht im Grundgesetz findet.

Da wird der Jahrestag der Maueröffnung im Bundestag und anderswo mit Feierstunden begangen - und die RednerInnen merken es nicht einmal, geschweige dass sie Vergleiche ziehen - dass vieles der beklagenswerten, schrecklichen Zustände um eine Mauer, die ein Land teilt, Familien, Leben und Wirtschaft zerstört - auf Palästina genauso und noch schlimmer zutrifft. Dürfen wir über massiven Völkerrechts- und Menschenrechtsbruch, über Mauer und Stacheldraht hinwegsehen, hinwegsehen, weil wir angeblich "bedingungslos auf Seiten Israels stehen" müssen? Ist das nicht völlig unlogisch und im Widerspruch zum Grundgesetz, nachdem das Völkerrecht unmittelbar geltendes Recht ist? Müssen und dürfen wir so unsere historische Verantwortung wahrnehmen, auch wenn es sich in Wahrheit um den letzten Kolonialstaat auf Erden mit apartheidähnlichen Verhältnissen handelt? Dennoch - die Hoffnung stirbt als letztes - die letzten Beschlüsse der UN, des EU-Parlaments, der beachtliche internationale Erfolg der BDS-Kampagne gegen alle, die von der Besatzung profitieren, darunter bedeutende Konzerne, Investmentgruppen und Banken - der wachsende internationale Druck auf die eigenen Regierungen nach Wahrhaftigkeit, nach Konsequenzen aus der gewohnheitsmäßigen Missachtung von Völkerrecht und Menschenwürde durch die bisherigen israelischen Regierungen gegenüber den Palästinensern und sogar gegenüber den arabisch-stämmigen Israelis - das alles scheint auf Korrekturen der bisherigen Politik hinauszulaufen. Wie weit diese gehen und ob sie eine gerechte Friedenslösung eröffnen, die beide - Israelis und Palästinenser - so dringend brauchen und die die ganze Region so dringend braucht, das wird auch bei uns mitentschieden.

Vielleicht dürfte es Sie abschließend interessieren, was zu diesem Thema in Duisburg gelaufen ist: Als ich nach dem ersten Gaza-Massaker zur Jahreswende 2008/09 einer Rufmordkampagne dieser unsäglichen Lobbygruppen ausgesetzt war, die bundesweite (und internationale) Ausmaße annahm – mehr aber noch die Solidarität, die ich erfahren durfte, insbesondere von kritischen jüdischen Stimmen - war der damalige OB Adolf Sauerland (CDU) nicht bereit, dem Druck nachzugeben, gegen mich vorzugehen und mir u.a. Räume der VHS zu versagen, in der ich mein Buch vorstellen konnte ("Bedingungslos auf Seiten Israels?"). Vorher hatte bereits eine Nakba-Ausstellung in Räumen der VHS (IZ) stattfinden können usw. Daran hätte sich Neuss ein Beispiel nehmen sollen! Es geht auch nicht nur darum, endlich den geschundenen Palästinensern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wahrheitsgemäße Informationen und Überlegungen zur Lösung dieser verfahrenen Lage in Nahost anzubieten. Es geht auch ganz entschieden darum, sich gegen interessengeleitete Vorstöße zu verwahren, die die grundgesetzlich garantierte Freiheit von Forschung und Lehre betreffen, verfassungswidrige Zensurforderungen zurückzuweisen usw. Die Absetzung ist nicht zuletzt auch deshalb befremdlich, weil das VHS-Programm lt. Presseauskunft von einem demokratisch gewählten Gremium, dem Kulturausschuss des Rates Ihrer Stadt, gebilligt worden war. Deshalb abschließend mein nachdrücklicher Appell: Machen Sie Ihre Entscheidung rückgängig. Zeigen Sie Größe, indem Sie Entscheidungen als fehlerhaft erkennen und nicht daran festhalten. Dem Ruf der Stadt Neuss würde damit nicht geschadet, er würde im Gegenteil gestärkt.

Mit freundlichen Grüßen

Hermann Dierkes


Deutsch-Palästinensische Gesellschaft (DPG)
Nakba-Ausstellung