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28. Juli 2006 - attac Deutschland:

Erklärung zum Krieg im Nahen Osten:

Die Eskalation stoppen – die eigene Verantwortung erkennen!

Mit dem Krieg im Libanon verschärft sich der israelisch-arabische Konflikt dramatisch. Die Menschen in der Region sind unerträglichem Leiden ausgesetzt. Angst, Verzweiflung, Zynismus und Hass werden zunehmen. Die ganze Region wird weiter destabilisiert. Das Pulverfass des „Krisenbogens“ von Afghanistan über den Iran, den Irak bis zum Mittelmeer kann jederzeit explodieren.

Die politischen Lösungsansätze der vergangenen Jahre - Camp David, Roadmap, das sog. Nahostquartett – liegen unter den Trümmern von Beirut. Für die PalästinenserInnen scheint die Lage hoffnungslos. Die Perspektivlosigkeit und das Elend der besetzten Gebiete sind sichtbarer Ausdruck für das völlige Versagen der sog. „internationalen Gemeinschaft.“ Mehr noch: nach dem Scheitern der Konferenz von Rom und den jüngsten Auseinandersetzungen im UN-Sicherheitsrat liegt auf der Hand, dass die dafür Verantwortlichen zur Eskalation der Gewalt beitragen.

Wenn attac als Netzwerk für globale Demokratie und die globalen sozialen Rechte aller sich für ein sofortiges Ende der Gewalt im Nahen Ost ausspricht, dann nicht, weil der israelisch-arabische Konflikt der einzige dieser Welt wäre. Religiös, nationalistisch oder rassistisch motivierte Gewalt gibt es überall, und die sog. „internationale Gemeinschaft“ versagt nicht nur im Nahen Osten. Doch verdichten sich diese Tendenzen hier in ebenso beispielhafter wie furchtbarer Weise. Dies gilt besonders für den Versuch, die Politik dem Kalkül eines „Kampfs der Kulturen“ zu unterwerfen. Dessen Verwirklichung würde jede Hoffnung auf einen allen Menschen geltenden Frieden, auf weltweite Gerechtigkeit und Demokratie auslöschen.

Uns ist bewusst, dass die Geschichte dieses Konflikts im Terror des deutschen Faschismus eine ihrer wirkungsmächtigsten Ursachen hat.

Die Eskalation stoppen

Gewalt, Terror und Faustrecht bringen keine Lösung, sondern schaffen immer neue Probleme. Es ist höchste Zeit, aus der Logik von Rache und Vergeltung auszusteigen. Wer in dem Konflikt, der tagtäglich das Überleben der Menschen im Nahen Osten bedroht, auf Sieg statt auf Verständigung, auf einseitige Parteinahme statt auf Vermittlung setzt, bleibt in der Spirale der Gewalt gefangen. Es geht uns nicht um wohlfeile Neutralität und schon gar nicht um ein feiges „Sowohl-als-Auch“. Im Gegenteil. Doch wir sind überzeugt, dass die sofortige Unterbrechung der Gewalt die erste und unumgängliche Voraussetzung einer Lösung ist. Das erfordert den größten Mut. Mehr als ein Luftangriff oder ein Selbstmordattentat.

Die israelische Regierung missachtet das Völkerrecht
und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit

Mit ihrem Krieg gegen den Libanon bricht die israelische Regierung Völkerrecht. Mit der Bombardierung der Zivilbevölkerung, der gezielten Vertreibung der Menschen schiitischen Glaubens und der systematischen Zerstörung der Infrastruktur im Libanon und Gaza missachtet sie auf eklatante Weise das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Kaum deutlicher könnte gezeigt werden, wie asymmetrisch der Konflikt im Nahen Osten ist. Diese Asymmetrie ist selbst eine wesentliche Triebkraft dafür, dass die Gewalt sich immer aufs Neue reproduziert.

Chancen für eine politische Lösung und eine Verständigung mit den arabischen Nachbarn werden damit völlig zunichte gemacht. Ein Leben in Sicherheit, das allein der Waffengewalt vertraut, ist auf Dauer ebenso unerträglich wie illusorisch - in Israel so wie überall.

Die Gewalt der Hisbollah kann nicht hingenommen werden

Aber auch die Gewalt der Hisbollah kann nicht hingenommen werden. Auch sie trifft gezielt ZivilistInnen, übrigens nicht nur in Israel. Sie ist Ausdruck eines religiösen Fundamentalismus, der zutiefst antiemanzipatorisch ist. Er richtet sich gegen alle, denen an einem friedlichen Zusammenleben und an gleichen Rechten für alle Menschen gelegen ist. Doch auch hier gilt: Ein Ende der Gewalt kann nicht durch einseitige Parteinahmen und schon gar nicht durch Dämonisierungen erreicht werden. Es gilt, jedem religiös aufgeladenen Rassismus entgegenzutreten - und denen, die dessen Gewalt direkt oder indirekt für sich funktionalisieren. Unter den gegebenen Umständen schließt das Verhandlungen allerdings nicht aus, sondern ausdrücklich und zwingend ein. Ohne solche Verhandlungen wird auch die eventuelle Entsendung einer UN-Friedenstruppe ihr Ziel nicht erreichen können. Die unumgängliche Einbeziehung der Hisbollah wie der sie deckenden Regime in solche Verhandlungen setzt allerdings voraus, dass die Gewalt auch von ihrer Seite eingestellt wird.

Imperiale Interessen der USA

Die Bush-Administration gibt der Regierung Israels Flankenschutz. Allerdings nicht so sehr aus Verantwortung für die Menschen in Israel, sondern aus imperialem Eigeninteresse. Strategische Dominanz und der Zugriff auf die Ölressourcen in der Region sind zwar nicht die einzigen, wohl aber die leitenden Handlungsmotive der Supermacht.

Washington nimmt die Gewalt der Hisbollah zum Anlass, ihren „Krieg gegen den Terror“ auszudehnen und den „Kampf der Kulturen“ erst zu schaffen, gegen den er sich vorgeblich richtet. Mehr noch: das Denken in Schwarz-Weiß-Kategorien von Gut und Böse verbindet diese Regierung gerade mit der religiös-fundamentalistischen Gewalt überall auf der Welt.

Die Bundesregierung hat einseitig Partei ergriffen

Die Bundesregierung äußert „Verständnis“ für das israelische Vorgehen. Obwohl klar war, dass mit solcher „Terrorbekämpfung“ die Menschen im Libanon wie in Israel zu Geiseln der Gewaltakteure auf beiden Seiten gemacht werden, wurde die humanitäre Katastrophe in Kauf genommen. Diese Haltung ist Teil der gesamtwestlichen Nahost-Politik, die - mit graduellen Unterschieden - einseitig zugunsten der israelischen Regierung Partei ergreift. Gleichzeitig ist sie Ausdruck für eine stärkere Ausrichtung der deutschen Außenpolitik an der imperialen Strategie der USA.

Der Schulterschluss erfolgt nicht unter Zwang, sondern aus dem, was diese Regierung „wohlverstandenes deutsches Eigeninteresse“ nennt. Der entschiedene Widerspruch gegen diese Politik ist eines unserer Hauptziele. Nicht, weil wir das „deutsche Interesse“ besser verstünden, sondern weil wir als globalisierungskritisches Netzwerk in Deutschland den inneren Zusammenhang von Globalisierung und Krieg zugleich lokal und global und deshalb zuerst hier aufdecken und ihm entgegentreten wollen.

Das schließt auch ein, sich für die bedingungslose Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Libanon einzusetzen, denen nicht nur der sich christlich nennende bayerische Staatsminister Beckstein die Einreise in Deutschland verweigern will. Der religiös verbrämte Rassismus ist keine Spezialität des Nahen Ostens, und kein Rassismus ist schlimmer als der, den man im eigenen Alltag bekämpfen muss.

Die Gewalt der Globalisierung

Die religiös-fundamentalistische Gewalt hat ihre Wurzeln in der langen und komplexen Geschichte des Konflikts. Der fünfzigjährige Krieg hat die säkularen Strukturen und ihre Glaubwürdigkeit fast vollständig zerstört. Doch ist solche Gewalt kein bloß nahöstliches Problem, sondern eine der Folgen des weltweiten Rollback gegen säkulare emanzipatorische Bewegungen und Perspektiven. Sie ist zugleich eine Konsequenz der neoliberalen Globalisierung selbst, des von ihr hervorgerufenen massenhaften Elends und der wachsenden Ausgrenzung von Millionen und Abermillionen. Immer mehr Menschen werden um jede soziale Perspektive, um ihre Rechte und sogar – gerade im Nahen Osten - um die Mittel eines Überlebens in Armut gebracht. Unter dem Druck der neoliberalen Verelendung und Entrechtung scheint vielen die Flucht in religiös aufgeladenen Nationalismus und Rassismus die letzte Möglichkeit politischer Selbstbehauptung zu sein. Diesem Irrtum verfallen übrigens nicht nur die „Verlierer“ der Globalisierung und nicht nur Menschen islamischer Traditionen, sondern auch deren „Gewinner“, die mehrheitlich christlichen Traditionen entstammen.

Existenzrechte

Die Anerkennung des Existenzrechts Israels, die Anerkennung des Rechts der PalästinenserInnen auf Selbstbestimmung und die gegenseitige Anerkennung des gleichen Rechts aller auf Sicherheit durch alle Konfliktparteien ist die politische Grundbedingung eines Friedensprozesses.

In eigener Sache

Als BürgerInnen eines der mächtigsten Länder des Westens sind wir nicht von Bomben und Raketen bedroht. Die Eskalation der Gewalt aber lässt uns in gleicher Weise ohnmächtig zurück wie die Menschen in Israel, im Libanon und in Palästina, die dort für Frieden, Demokratie und die Gleichheit der Rechte aller streiten.

Wenn wir im folgenden einige nach unserer Wahrnehmung und Auffassung unverzichtbare Forderungen zur Lösung des Nahost-Konflikts nennen, müssen wir auch von dieser Ohnmacht sprechen.

Wenn die zunehmende Gewalt und die wachsende Verelendung Nationalismus, Rassismus, Fundamentalismus und einen angeblichen „Kampf der Kulturen“ scheinbar plausibel werden lassen, dann werden die Chancen für eine andere Welt umso geringer. Je auswegloser das Politische in ethnische, nationale, rassistische Kategorien gezwungen wird, in desto weitere Ferne rückt die Befreiung von Unterdrückung, Ausbeutung, Ausgrenzung.

Eine andere Welt aber kann nicht von Regierungen eingefordert, sie muss erstritten werden. Hier, in Israel, im Libanon und in Palästina, nicht von oben, sondern von unten, von uns. Deshalb machen Forderungen an die kriegführenden Mächte und ihre Verbündeten nur Sinn, wenn unsere Solidarität mit den Opfern praktisch wird. Das führt über Erklärungen wie diese, über Appelle an Minister und Generäle hinaus

Wir selbst sind es, die zur solidarischen Zusammenarbeit und zum offenen Austausch mit denen aufgefordert sind, die sich vor Ort gegen den Krieg und die Ursachen des Krieges wehren, in Israel, im Libanon, in Gaza und der Westbank. Wir sind es, die unmittelbar auch zur materiellen Unterstützung derer aufgeordert sind, die im Augenblick zunächst einmal die humanitäre Katastrophe abzuwehren suchen. Dabei spielt die Zeit so lange gegen uns, als Bomben und Raketen auf den Libanon, auf Israel und auf Gaza niedergehen. Deshalb kommt dem Ende der Gewalt höchste Dringlichkeit zu: auch wenn ein Ende der Gewalt noch lange keinen Frieden bedeuten wird.

Von den Kriegsparteien fordern wir:

  • einen sofortigen Waffenstillstand,
  • die Respektierung von Völkerrecht und Menschenrechten,
  • den sofortigen Beginn von Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch.

Von der Bundesregierung:

  • sich eindeutig und unmissverständlich zur Unverletzlichkeit der libanesischen Grenzen zu bekennen,
  • jegliche Rüstungslieferungen incl. atomwaffenfähiger U-Boote in die Region sofort zu stoppen,
  • Unterstützung einer „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Nahost“ (KSZNO) bei der alle Konfliktparteien vertreten sein müssen, einschließlich der palästinensischen Autonomiebehörde, der Hisbollah, der libanesischen Regierung, Syrien und Iran. Ziel ist eine systematische Abrüstung und eine atomwaffenfreie Zone in Nahost,
  • ein humanitäres Sofortprogramm für die Verletzten, Obdachlosen und Flüchtlinge im Libanon.

Attac Deutschland, 28. Juli 2006