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6. Januar 2016 - Ha'aretz, Peter Beinart:

Netanjahu fürchtet den Zusammenbruch der Palästinensischen Behörde (PA),
zu dem er selbst beigetragen hat

Die PA ist für die Israelis ein Narkotikum: Es erlaubt ihnen, Millionen staatenloser, entrechteter Palästinenser zu beherrschen, ohne die Kosten tragen zu müssen.
Benjamin Netanjahu ist beunruhigt, dass die Palästinensische Autorität aufgeben könnte. Laut Barak Ravid, hat er zweimal das israelische Sicherheitskabinett einberufen, um die Perspektive zu diskutieren seit dem letzten Dezember. Es erinnert mich an ein Zitat aus dem 2003-Film, Cold Mountain: “Sie machten das Wetter, und danach standen sie im Regen und sagten: „Shit, es regnet.“
Die Palästinensische Autorität (PA), die als Teil der Oslo-Abkommen 1993 geschaffen wurde, entstand auf einem (gegenseitigen) Abkommen: Israel sollte eine palästinensische Führung erhalten, die sein Existenzrecht anerkennt und die West Bank bewacht, so müssten die 19-jährigen Israelis nicht länger durch jedes Dorf und jede Stadt patrouillieren. ( Eine Maßnahme, die seit Ausbruch der ersten Intifada im Jahr 1987 noch gefährlicher geworden war). Im Gegenzug würden die Palästinenser das Embryo eines Staates (einen Ministaat) erhalten. Die PA sollte nur fünf Jahre bestehen bleiben. Danach vermuteten die meisten Palästinenser, dass die PA nicht die Überwachung für Israels Besatzung, sondern für ihr neues Land vornehmen würde.
Um zusammenzuarbeiten, erforderten die Abkommen, dass jede Seite Vertrauen in die andere gewinnt. Je mehr Sicherheit die PA Israel verschaffte, desto mehr würden die Israelis sie unterstützen, die Autonomie in einen Staat umzuwandeln.
Je mehr Palästinenser glaubten, dass Israel ihnen einen Staat gewährte, desto bereitwilliger wären sie, sich selbst im Auftrag Israels zu bewachen.
Im Jahr 1996, zu der Zeit, wo Benjamin Netanjahu erstmals Premierminister wurde, war dieses Vertrauen bereits zerbrochen: Für die Israelis stellten die Selbstmordattentate Mitte der 1990 Jahre ein Bruch der palästinensischen Seite der Abmachung dar, für die Palästinenser stellte das Siedlungswachstum einen Bruch der Abmachung der israelischen Seite dar. All das schwächte die Palästinensische Autorität.
Aber vor Netanjahus Wahl glaubten noch 44 Prozent der Palästinenser, dass aus der Palästinensischen Autonomie ein Staat würde. Laut dem palästinensischen Meinungsforscher, Khalil Shikaki, war diese Zahl innerhalb eines Jahres nach seiner Amtsübernahme Zahl auf 30 Prozent zurückgegangen. Nach den Worten des verstorbenenRon Pundak, eines der Oslo-Architekten, war sie gefallen...: “Netanjahu sabotierte den Friedensprozess unaufhaltsam und tat alles, um seine palästinensischen Partner zu delegitimieren.”
Um fair zu sein, die Palästinenser delegitimierten sich auch selbst: Yasser Arafat bekämpfte nicht konsequent den Terrorismus, bisweilen schürte er ihn. Aber, indem Netanjahu den Palästinensern bewies, dass er nicht die Absicht hatte, ihnen einen lebensfähigen Staat zu geben, untergrub er die politische Abmachung, auf der die palästinensische Sicherheitskooperation beruhte. “Ich beabsichtige keinesfalls, irgendeine Siedlung aufzulösen,” erklärte Netanjahu im Jahr 1998. Tatsächlich führte er, außer 170 illegalen Außenposten, eine große neue (Siedlung) in Har Homa ein, wie Akiva Eldar und Idith Zertal in ihrem Buch „Lords of the Land“ (Herren des Landes) detailliert beschrieben. “Weder Präsident Clinton, noch Außenministerin Albright glaubte, dass Bibi ein echtes Interesse hatte, Frieden zu verfolgen,” bemerkte der US-Gesandte Demis Ross. Nachdem Bibi aus dem Amt schied, gab Bibi selbst zu, indem er prahlte, dass während seiner Zeit als Premierminister: “Ich den Prozess unterbunden habe, Land fortzugeben.”
Als Netanjahu als Premierminister im Jahr 2009 zurückkehrte, hatte die PA ein Jahrzehnt ihres usprünglichen Auslaufdatum überschritten, und das politische Abkommen, das diese stärkte, war noch mehr beschädigt worden, für die Israelis: durch die Gewalt der Zweiten Intifada und für die Palästinenser: durch das anhaltende Wachstum der Siedlungen. Trotzdem gab es noch einen Funken Hoffnung. Unter Präsident Mahmoud Abbas und Premierminister Salam Fayyad waren die palästinensischen Sicherheitskräfte professioneller geworden und erhielten Lob von ihren israelischen Amtskollegen. Im Jahre 2008 hatte Ehud Olmert das weitreichendste Zweistaaten-Angebot gemacht, das jemals von einem israelischen Premierminister unterbreitet wurde. Auch Abbas hatte dramatische Konzessionen gemacht , auch hinsichtlich der Rückkehr der Flüchtlinge.
Dann (aber) kehrte die Bibi-Abbruch-Crew zurück. Netanjahu zog Olmerts Angebot zurück und bot nichts als Alternative an. Unter internationalem Druck bestätigte er die Idee eines palästinensischen Staates im Sommer 2009, wies jedoch den Gedanken energisch zurück, dass dieser auf den Grenzen von 1967 zuzüglich eines Gebietsaustauschs basierte. Somit lehnte er die Parameter ab, die der Kern jeder ernstgemeinten Verhandlung über ein Zweistaaten-Angebot in der Vergangenheit gebildet hatten. Dann erklärte er, im Jahre 2014, dass er irgendeinen palästinensischen Staat nicht länger unterstützen werde.
Nochmals, die Palästinenser sind nicht schuldlos. Die PA ist autoritär und korrupt, und die Westbank-Palästinenser können keine neuen Führer wählen, da weder Abbas, noch Netanjahu, noch Barack Obama eine weitere freie Wahl, die die Hamas gewinnen könnte, riskieren will. Aber der einzige hauptsächliche Grund für die Legitimitätskrise ist simpel: Die Palästinenser unterstützten sie (die PA) als Mittel im Hinblick auf die Eigenstaatlichkeit. Sie haben ihre Unterschrift nicht gegeben, um ihre eigene Knechtschaft zu bewachen. WieSalam Fayyad erklärte, als er als PAs Premierminister in 2013 zurücktrat: “Das Besatzungsregime ist etablierter, ohne irgendein Zeichen dafür, dass sie begonnen hat, ihren Zugriff auf unser Leben aufzugeben... Unser Volk fragt sich, ob die PA imstande ist, das zu liefern (erreichen).“
Nun will Bibi, der eine Karriere damit verbracht hat, die PA zu unterminieren, diese über Wasser halten. Der Grund ähnelt dem jedes kolonialen Verwalters des 19. Jahrhunderts: Indirekte Herrschaft ist billiger. Warum Israelis senden, um den Unrat aufzusammeln und nach Terroristen in Qalilya zu jagen, wenn das die Palästinenser für dich tun werden, besonders, wenn ausländische Geldgeber weitgehend ihre Kosten übernehmen?
Aber sie werden das auf Dauer nicht mehr tun. Für Israelis ist die Palästinensische Autorität ein Narkotikum: Es gewährt ihnen den Vorteil, Millionen staatenloser, entrechteter Palästinenser zu beherrschen, ohne dafür die Kosten tragen zu müssen. Aber die Kosten beginnen zu steigen. Sie steigen so, wie die Sicherheit in der Westbank zusammenbricht und die Palästinenser mit erschreckenden, ungerechtfertigten Gewalttaten beginnen. Und sie steigen so, wie langsam aber unaufhaltsam die BDS-Bewegung (Boykott-, Desinvestitionen und Sanktionsbewegung) Israel in der gesamten Welt isoliert. Wenn die Palästinensische Autorität gänzlich zusammenbricht und Chaos in der Westbank um sich greift, werden die Kosten sogar noch steigen, da Israel seine Soldaten senden muss, um erneut in den palästinensischen Dörfern und Städten, von Haus zu Haus zu patrouillieren, obwohl deren Bewohner sie abgrundtief hassen.
Die PA zu retten, falls dies überhaupt noch möglich ist, würde einen fundierten Umschwung in der israelischen Politik erfordern: ein wirkliches Einfrieren der Siedlungen, ein Zweistaaten-Angebot in den Parametern von Clinton, Unterstützung einer palästinensischen Koalitionsregierung, die den Weg für palästinensische Wahlen ebnen kann. Um mitzumachen, müsste Hamas geloben, den Willen des palästinensischen Volkes zu akzeptieren, wenn dieses ein Zweistaaten-Abkommen durch ein Referendum befürwortet. Wenn Israel will, dass Hamas verlieren soll, könnte es Marwan Barghouti, den noch lebenden, populärsten palästinensischen Politiker und Vertreter der Zwei Staaten-Lösung, aus dem Gefängnis entlassen.
Bibi denkt nichts von alledem. Er hat seine Wahl bereits getroffen: ein Staat, vom Fluss bis zum Meer, in dem die Juden sich ihrer Staatsbürgerschaft erfreuen, die Westbank-Palästinenser nicht. Aber den Konsequenzen seiner Wahl will er nicht ins Auge sehen. Lieber würde er in den sich verdunkelnden Himmel schauen und sagen: „Shit, es regnet.“
(Deutsch: Inga Gelsdorf)
[ Quelle: Ha'aretz ]